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© Daniela Prugger
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Wie die Ukraine zum größten IT-Hub Osteuropas werden soll

Ihren ersten IT-Job fand Hannah Kaplun in einer Zeit lange vor dem großen Hype, den die Branche heute erlebt. Damals war sie Mitte 20 und studierte Mathematik in Dnipro, einer Industriestadt in der südöstlichen Ukraine, die in der Sowjetunion ein wichtiger Standort für die Raumfahrtindustrie war. Ein Professor gab ihr die Telefonnummer einer Firma, die sich physisch in den USA befand, aber nach Fernarbeiter:innen in Osteuropa suchte. „Gleich am Anfang hat man mir den texanischen Akzent beigebracht“, erinnert sich Kaplun. Wenig später nahm sie für die Firma Anrufe entgegen und erklärte Kund:innen, wie Router für Call-Center installiert werden.

„Ich sollte dabei so tun, als würde ich mich in Texas befinden, aber eigentlich saßen wir zu dritt in einer Wohnung in der Ukraine.“ Um den 24-Stunden-Service für die Firma zu garantieren, wechselten sich Kaplun und vier weitere Ukrainerinnen in Schichten ab. Oft kam Kaplun erst nach vier Uhr morgens nach Hause. „Für die US-Firma waren wir günstig“, sagt sie. Doch für die junge Frau bedeutete dieser Job ihr erstes gutes Gehalt, von dem sie sich einen eigenen Computer kaufen konnte – als einzige an ihrer Fakultät, wie sie heute stolz betont. So wie sie, sagt Kaplun, haben viele in der Branche angefangen. „Schon seltsam, oder?“

Mehr als fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen. In der Ukraine gab es in der Zwischenzeit zwei Revolutionen, Russland hat die Krim annektiert und im Osten des Landes herrscht seit sieben Jahren Krieg. Seit Monaten trifft die COVID-19-Krise nicht nur den Einzelhandel und die Gastronomie hart, sondern viele junge Menschen, die sich das Leben in den Großstädten aufgrund der prekären Jobaussichten nicht mehr leisten können. Kaplun dagegen hat einen „krisensicheren“ Job. Sie ist leitende Ingenieurin bei einem ukrainischen IT-Unternehmen, das sich auf die Softwareentwicklung für die Automobil- und Finanzbranche im deutschsprachigen Raum spezialisiert hat.

Gemeinsam mit ihrem Partner besitzt Kaplun eine Fünfzimmerwohnung in der Millionenstadt Kiew, die sechsjährige Tochter besucht einen Programmierkurs für Kinder und um den elf Monate alten Sohn kümmert sich eine Nanny, wenn die Eltern arbeiten. Kaplun hat das, was vielen jungen Ukrainer:innen fehlt: finanzielle Sicherheit. Im März lag das durchschnittliche Monatseinkommen in der Ukraine bei 400 Euro. Wer hingegen im IT-Bereich arbeitet, verdient drei- bis viermal so viel.

„Die IT-Branche unterscheidet sich von allen anderen, da sie die einzige Sphäre in der Ukraine ist, die nicht postsowjetisch ist.“

„Die aktuelle wirtschaftliche Situation treibt die jungen Menschen regelrecht in den IT-Sektor“, sagt Roman Markiv, einer der Gewinner der diesjährigen „Ukrainischen IT-Awards“. Der 35-Jährige ist Senior Projektmanager und arbeitet seit zehn Jahren bei einem der größten und international tätigen IT-Unternehmen des Landes. Das Bürogebäude befindet sich in seiner Heimatstadt Lemberg und wirkt eher wie ein hipper Co-Working-Space, dessen roher Industrie-Look im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden in der Ukraine eindeutig Teil des Designs ist. Markiv sagt: „Die IT-Branche unterscheidet sich von allen anderen, da sie die einzige Sphäre in der Ukraine ist, die nicht postsowjetisch ist. In der IT gibt es nicht nur sichere Jobs, sondern auch Platz für neue Ideen.“

So wie sein Vater studierte auch Markiv Ingenieurswesen. Doch weil er in seiner Freizeit lieber programmierte und an Geräten herumschraubte, fand er in der IT nicht nur seinen Traumjob, sondern auch eine Freiheit, die er seinen Eltern erst erklären musste. Die Generation seiner Eltern wuchs in der Sowjetunion auf und hatte ein vorbestimmtes Leben: Man ging zur Schule, machte seinen Abschluss, besuchte eine Universität oder machte eine Ausbildung. Man bekam einen Job in einem Betrieb, einer Fabrik oder einem Büro. Dazwischen wurde geheiratet und die Kinder kamen zur Welt. Markivs Eltern haben ihr ganzes Leben lang für denselben Arbeitgeber gearbeitet, die Berufe wurden nach dem Bedarf gewählt, den es im Land gab. 30 Jahre nach dem Fall der Sowjetunion betont ihr erwachsener Sohn, wie wichtig Work-Life-Balance und Selbstverwirklichung sind.

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„Ich habe mit Leuten zu tun, die für die größten Unternehmen der Welt arbeiten“, sagt Markiv, der in seiner Freizeit am liebsten reist. „Das gibt mir das Gefühl, dass ich Teil von etwas Größerem und nicht nur auf ein Land und eine Sprache beschränkt bin. Aus dem kleinen Jungen aus Lemberg ist jemand geworden, der mit der ganzen Welt in Kontakt steht.“ Sowohl Markiv als auch Hannah Kaplun betonen die Freiheit, die ihr Beruf mit sich bringt. Und die Zugänglichkeit, weil man sich vieles im Programmierbereich selbst beibringen kann. Mit Apps, Tutorials und Zeit.

Die Branche wächst derart schnell, dass die Nachfrage nach Personal größer ist als das Angebot. Deshalb bemühen sich ukrainische Unternehmen auch um ausländische Spezialist:innen. „In unserer Firma haben wir uns bereits mehrfach für neue Mitarbeiter aus Belarus entschieden“, sagt Markiv. Auch aus Zeichen der Solidarität. Die politischen und wirtschaftlichen Einschränkungen treffen die IT-Branche im Nachbarland Belarus besonders dann, wenn die Regierung das Internet abschaltet. A1 Belarus, Tochter der österreichischen A1 Telekom Austria Group, die mit knapp fünf Millionen Kund:innen einer der größten Mobilfunkbetreiber des Landes ist, steht deshalb stark in der Kritik.

„IT ist nicht nur ein Trend, sondern eine große Hoffnung für dieses Land.“

Nach dem Beginn der Massenproteste gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko im Mai des Vorjahres hat das ukrainische Ministerium für digitale Transformation ein eigenes Webportal für belarussische IT-Spezialisten eröffnet. Mehr als 2000 von ihnen sind seither in die Ukraine ausgewandert.

Wenn es nach den Plänen der ukrainischen Regierung geht, soll sich die Anzahl der derzeit insgesamt 220.000 ukrainischen IT-Spezialist:innen bis zum Jahr 2025 verdoppeln. „IT ist nicht nur ein Trend, sondern eine große Hoffnung für dieses Land“, sagt Alex Bornyakov, der stellvertretende Minister für digitale Transformation, ein Ministerium, welches vor zwei Jahren unter der Regierung des amtierenden Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gegründet wurde.

Bornyakov ist Ende 30 und hat in den ukrainischen Medien den Ruf eines IT-Nerds. Er wirkt so, als würde er sich in T-Shirt und Jeans wohler fühlen als in Hemd und Sakko. Bevor er ins Ministerium kam, hat er an der Columbia Universität studiert, dann in der Softwareentwicklung gearbeitet und unter anderem eine Marketingfirma mitbegründet. „Unser Ziel ist es, die Ukraine zu einer IT- und Tech-Nation zu machen.“ Er sei motiviert, genauso wie sein Team, auch wenn er selbst erst begreifen musste, dass diese Veränderung länger dauern wird, als er am Anfang hoffte.

„Wir wollen aus der Ukraine den größten IT-Hub in Osteuropa machen.“

Seitdem es das Ministerium gibt, wurden viele öffentliche Dienstleistungen ins Netz verlagert und digitale Ausweise, Pässe und Führerscheine eingeführt. Derzeit wird an einer Gesetzgebung für Kryptowährung gearbeitet. Diese Maßnahmen, sagt Bornyakov, seien nicht nur ein erster wichtiger Schritt im Kampf gegen die schwerfällige Bürokratie im Land, gegen die langen Warteschlangen vor den Ämtern, die Stempel-Kultur und die vielen Papierdokumente.

Digitalisierung sei für die Ukraine auch ein Weg aus der Alltagskorruption, vor allem in jenen Bereichen, wo Geldscheine gewisse Vorgänge beschleunigen oder gar erst ermöglichen. „Wir können die Menschen nicht einfach so verändern und dazu bringen, Korruption zu stoppen. Aber wir können mit Transparenz beginnen, damit, alles zu digitalisieren und den menschlichen Risikofaktor für Korruption kleinzuhalten, vor allem in der Verwaltung“, so Bornyakov.

Sein eigentliches Ziel sei, den Anteil der IT am BIP des Landes von derzeit ungefähr vier auf zehn Prozent zu erhöhen. Die Ukraine soll deshalb noch stärker zur Outsourcing-Destination gemacht werden, außerdem hat die Regierung vor zwei Jahren den „Ukrainian Start-up Fond“ ins Leben gerufen. „Wir wollen aus der Ukraine den größten IT-Hub in Osteuropa machen. Wenn es um IT-Arbeit geht, dann sollen sich die Menschen denken: Gehen wir in die Ukraine“, sagt der Politiker.

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Gerade in der Technologiebranche ist die Ukraine längst international wettbewerbsfähig geworden. So lagern etwa die Deutsche Bank, Boeing, Google oder Microsoft in die Ukraine aus, Amazon entwickelt ebenfalls im Land, auch wenn der Onlinehändler hierzulande nicht verfügbar ist. Die IT-Branche wächst jährlich und auch während der Pandemie zwischen 20 und 25 Prozent Während die Wachstumsrate in Nachbarländern wie Belarus und Rumänien 15% beträgt, Quelle: EBA und generierte zuletzt Exporteinnahmen von mehr als fünf Milliarden Dollar.

Allerdings hat die Ukraine noch immer einige interne Probleme, die zu einem Mangel an Glaubwürdigkeit auf dem globalen Markt führen, sagt Olga Kunychak, Leiterin des IT-Komitees bei der „European Business Association“, kurz EBA. Die EBA in Kiew führt jedes halbe Jahr eine Umfrage unter den Mitglieder:innen der Organisation durch, um das Investitionsklima in der Ukraine einzuschätzen. In der jüngsten Umfrage stellte sich heraus, dass 78 Prozent das derzeitige Investitionsklima für ungünstig halten, seit Anfang des Jahres hat sich diese Zahl um 16 Prozent erhöht.

Die Gründe dafür sind laut Kunychak auf den ineffektiven Kampf gegen die Korruption, leistungsschwache Gerichte und Schattenwirtschaft zurückzuführen. Dazu kommt noch der Krieg im Osten der Ukraine, der das Land instabil und für potenzielle Investor:innen und Kund:innen kaum berechenbar macht.

„Die Ukraine ist gewiss ein IT-Powerhouse. Aber weil sich die Industrie so auf das Outsourcing konzentriert, wird es immer schwieriger, ein Unternehmen hier im Land zu gründen."

Ähnlich wie Bornyakov sieht Kunychak eine Chance darin, die Ukraine weiterhin als Outsourcing-Zielland zu promoten: „Outsourcing schafft Tausende von Arbeitsplätzen für Menschen, erhöht den Dienstleistungsexport des Landes, produziert erfahrene und hochtalentierte Spezialisten – die Gründer zukünftiger Start-ups. Solche Outsourcing-Firmen entwickeln auch das ukrainische Bildungssystem, was das Interesse der Studenten an technikbezogenen Bereichen fördert und den gesamten Cashflow des Landes sowie den Lebensstandard erhöht.“ Im Kontext der IT-Branche gibt es in der Ukraine mittlerweile viele Beispiele für erfolgreiche Start-ups, sogenannte Einhörner – darunter der Übersetzungsdienst Grammarly.

Dabei könnten es noch viel mehr sein, erklärt Start-up-Gründer Michael Lazarenko. „Die Ukraine ist gewiss ein IT-Powerhouse. Aber weil sich die Industrie so auf das Outsourcing konzentriert, wird es immer schwieriger, ein Unternehmen hier im Land zu gründen, da die Preise für lokale Gründer mittlerweile kaum leistbar sind“, sagt der 27-Jährige, der wie Hannah Kaplun in Dnipro aufwuchs, wo er sich seit Beginn der Pandemie befindet. Gemeinsam mit seinem Schulkollegen Maksym Horinov gründete Lazarenko im Jahr 2017 ein Start-up-Unternehmen, das Geräte für Gewächshäuser entwickelt, damit diese den optimalen Bestäubungsgrad ihrer Pflanzen erreichen. Etwa dadurch, dass die Anzahl an Hummeln gezählt und die Daten im Anschluss ausgewertet werden.

Um Ideen wie diese zu entwickeln und umzusetzen, brauche man Kapital, sagt Lazarenko, Förderungen durch Universitäten und die Regierung. Beides steckt in der Ukraine erst in den Startlöchern. „Man muss ein Risiko eingehen können und wenn man aus einer durchschnittlichen ukrainischen Familie kommt, tut man sich dabei schwer, einen anderen Job aufzugeben und alles zu riskieren, um sich ein Jahr Zeit für eine Idee zu nehmen und etwas zu gründen, von dem man nicht weiß, ob es funktionieren wird. Wovon soll man dann in diesem Jahr leben?“

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Ein weiteres Problem für ukrainische Start-ups sei, dass Gründer:innen wie er mittlerweile denselben Preis für die Gehälter von Programmierer:innen und Ingenieur:innnen bezahlen wie ausländische Unternehmen, für welche ukrainischen Spezialisten noch immer ein Schnäppchen sind. „Wenn man so will, bezahlen wir mittlerweile die US-Preise für unsere Mitarbeiter. Aber wenn ein Start-up in der Ukraine Erfolg hat, dann ist der Ertrag nicht mit jenem von US-amerikanischen Unternehmen vergleichbar.“

Die beiden Firmengründer stehen mittlerweile an der Spitze eines Unternehmens mit zwölf Angestellten, einer Niederlassung in Hongkong, Großbritannien und Georgien. Ein großes Marktpotential sieht Lazarenko in der spanischen Landwirtschaft. In einigen Monaten wird er nach San Francisco reisen, um sich dort um weitere Finanzierungen und Expansionsmöglichkeiten bemühen. „Ein Unternehmen in der Ukraine zu führen, ist schwierig, die Steuern für Start-ups sind zu hoch, deshalb versuchen die meisten Unternehmen Steuern zu vermeiden, indem sie keine Angestellten haben, sondern nur mit Subunternehmern arbeiten“, so Lazarenko.

„Die Durchschnittsgehälter in der IT- und in der Start-up-Branche sind deutlich höher als in anderen Bereichen. Das ist gut, das stimuliert die Wirtschaft. Aber langfristig kann das nicht unsere Strategie sein, denn der größte Teil des Wertes bleibt in den USA, während in der Ukraine nur ein kleiner Teil davon ankommt und entwickelt wird.“ Lazarenko selbst hat an der London School of Economics studiert und schließt ein Auswandern nach Großbritannien nicht aus. „Der Lebensstandard in der Ukraine hat sich in den vergangenen Jahren eindeutig verbessert. Aber gerade, wenn es um Umweltschutz geht, gibt es hier noch viel zu tun.“