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(c) Christoph Liebentritt

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Die Herausforderungen der Sozialarbeit in Zeiten der Pandemie

Als im März 2020 der erste Lockdown in Österreich verhängt wurde, als Geschäfte, Schulen und öffentliche Einrichtungen nach und nach ihre Türen schlossen, ging Elisabeth Hammer dieser Gedanke durch den Kopf: Wir müssen offen bleiben. Sofort reiste sie von einer Konferenz in Graz zurück nach Wien, in die Margaretenstraße. Es mussten jetzt Pläne geschmiedet, Menschen kontaktiert werden. Woran Hammer in dieser Zeit nie dachte: neunerhaus zu schließen. „Es ist unsere Auftrag, da zu sein“, sagt sie heute. 

Hammer ist die Geschäftsleiterin von neunerhaus, einer sozialen Einrichtung, die sich an armutsbetroffene und wohnungslose Menschen richtet. Die Institution vermittelt etwa Wohnungen an Wohnungslose, denn sie verfolgt in ihrer Arbeit das Motto: „housing first“, Wohnraum zuerst. Zudem gibt es ein Café, Sozialberatung und ein kostenloses Gesundheitszentrum.

Elisabeth Hammer (c) Christoph Liebentritt

Während der COVID-19-Pandemie nahm die Nachfrage nach all diesen Angeboten zu: Im ersten Halbjahr 2020 hat das neunerhaus-Gesundheitszentrum 37 Prozent mehr Patient:innenen versorgt als im Halbjahr davor. Die Beratungsgespräche in der sozialen Arbeit sind um 66 Prozent angestiegen. Diese Zahlen zeigen: Wer vor COVID-19 schon gesundheitliche, soziale oder finanzielle Not hatte, wurde noch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

Wie ging eine Institution wie neunerhaus, wie gingen die Mitarbeitenden dort mit dieser plötzlich steigenden Belastung um? Wie können die Krisen, die dort zum Alltag gehören, gelöst werden, während die ganze Welt in einer Krise steckt?

„Ich hätte nie gedacht, dass es mich trifft“

Die Not vieler armutsbetroffener Menschen stieg in Österreich während der Pandemie. Eine Studie der Armutskonferenz fand heraus, dass etwa prekär oder irregulär Beschäftigte während der Pandemie besonders oft in die Armut abgerutscht waren. Wegen dem Wegfallen einiger sozialer Einrichtungen, wurde das Leben auf der Straße noch härter als zuvor. Das merkten auch die Mitarbeitenden von neunerhaus: „Da sind Menschen im Gesundheitszentrum vom Sessel gefallen, weil sie nichts gegessen hatten“, sagt Hammer.

Auch die Angebotsleitung und Leiterin der niederschwelligen Sozialen Arbeit im neunerhaus Café, Laura Wahlhütter, berichtet: „Oft ist uns der Satz begegnet ‚Ich hätte nie gedacht, dass es mich trifft‘.“ Zeitweise standen Menschentrauben vor dem Eingang zum Gesundheitszentrum und warteten auf Einlass, so viele Menschen suchten Hilfe.

„Wir in der Wohnungslosenhilfe sind das letzte Auffangnetz für Menschen, die sonst nirgends hingehen können.“

neunerhaus war zwar immer da, viele andere wichtige Orte waren es nicht. „Wir in der Wohnungslosenhilfe sind das letzte Auffangnetz für Menschen, die sonst nirgends hingehen können“, sagt Hammer. In der Pandemie traf das in noch stärkerem Maß zu. Trotzdem sind die Mitarbeitenden bei neunerhaus etwa auf die Zusammenarbeit mit Arztpraxen, Ämtern und Heimen angewiesen. „Wir müssen Brücken zu diesen Orten bauen, damit wir Menschen dauerhaft entlasten können“, sagt Hammer.

Dieses Brückenbauen wurde in der Pandemie schwieriger. Schließlich hatten viele Institutionen wegen der Pandemie geschlossen, Therapien wurden zum Teil nur noch online angeboten. Ämter erlaubten oft keine Begleitung mehr von Sozialarbeiter:innen. Und in die Krankenhäuser und Gesundheitspraxen trauten sich viele neunerhaus-Nutzer:innen nicht mehr.

Erschwerend kam hinzu, dass viele Menschen, die zu neunerhaus kommen, keinen Zugang zu Information haben. „Drei Wochen nach der Verkündung des ersten Lockdowns hatten wir noch Nutzer:innen und Patient:innen, die ganz einfach nicht wussten, was ein Lockdown ist“, sagt Elisabeth Hammer. Viele von ihnen haben weder Computer, noch Smartphone, noch Internet, einigen stehen auch Sprachbarrieren im Weg. „Wir waren viel damit beschäftigt, Informationen an die Menschen weiterzuleiten, sie über das Virus und die Maßnahmen aufzuklären“, berichtet auch die Café-Mitarbeiterin Wahlhütter.

Das wirkte sich auch auf die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeiter:innen aus. neunerhaus verdoppelte im Jahr 2020 die Anzahl der Stunden an Beratungsgesprächen. Obwohl sie auch das Personal aufstockten, spürten die Mitarbeitenden die erhöhte Belastung. Laut einer Befragung der Hochschule Fulda unter Beschäftigten in Deutschland denkt rund ein Drittel der Sozialarbeiter:innen dort über einen Stellenwechsel nach.

„Unsere Arbeit während der Pandemie erforderte ein hohes Maß an Flexibilität und Ausdauer.“

Die Studie zieht zudem das Fazit, dass Sozialarbeiter:innen zerrieben worden seien, zwischen den Anforderungen, welche die Pandemiemaßnahmen an sie stellten und denen, die sie an sich selbst und ihre Arbeit haben. Sie konnten schlicht nicht so zufriedenstellend arbeiten, wie sie es gerne getan hätten: Es fehlte der persönliche Kontakt zu den Klient:innen, es fehlte auch an Zeit und Kapazitäten. Laut der Studie gaben zudem viele der Befragten an, dass die Schutzmaßnahmen wie Maske und Abstandsregelung die Arbeit erschwerte, da sie die Kund:innen verunsicherte.

Auch Laura Wahlhütter sagt: „Unsere Arbeit während der Pandemie erforderte ein hohes Maß an Flexibilität und Ausdauer.“ Schließlich hätte sie sich ständig an neue Regeln angepasst. Hinzu kam, dass Wahlhütter mit eigenen Sorgen um das Thema Corona zu kämpfen hatte, auch, weil sie während der Arbeit dem Virus gegenüber exponiert waren. „Aus dem Home Office zu arbeiten, ist für mich keine Option“, sagt sie.

Laura Wahlhütter (c) Christoph Liebentritt

Gerade in dieser Situation sei es deswegen wichtig gewesen, auf das Wohlergehen der Mitarbeitenden zu achten. „Während der Pandemie haben wir gelernt: Für die Aufgaben der Mitarbeitenden ist es zentral, dass sie sich nicht nur von der Arbeit erholen, sondern auch fachlich austauschen können“, sagt Geschäftsführerin Hammer.

Die Mitarbeitenden von neunerhaus haderten besonders damit, dass sie ihre Klient:innen unter den neuen Bedingungen noch stärker kontrollieren mussten. Schließlich ist das oberste Ziel der Einrichtung, Menschen ein Gefühl von Selbstbestimmung zurückzugeben. Das machte etwa Elisabeth Hammer schon davor zu schaffen: „Die Menschen, die Hilfe suchen, müssen oft hohe Anforderungen erfüllen. Bei den Behörden und in den sozialen Institutionen wird eine Maschinerie in Gang gesetzt. Sie müssen sich ausweisen, ihr Problem beschreiben, die Versicherungskarte vorweisen, Dokumente, Kontoauszüge und Mietverträge mitbringen. Und das alles, bevor ihnen geholfen wird.“ Während der Pandemie kommen jetzt Dinge wie die Kontrolle der Einhaltung von Maske- und Abstandsregeln dazu. Das mache die Umsetzung des niederschwelligen Grundsatzes von neunerhaus schwierig, so Hammer.

Mehr Einsamkeit, weniger Teilhabe

Während anfangs Schlafplatz und Nahrung im Vordergrund standen, zeigt sich nun, nach fast zwei Jahren Pandemie, dass auch das Bedürfnis nach sozialem Austausch für viele ihrer Klient:innen nicht gedeckt wird, erzählt Hammer. Der Rückzug vieler Menschen ins Private und die Schließung öffentlicher Begegnungsorte erschwerten es insbesondere für armutsbetroffene Menschen, an der Gesellschaft teilzuhaben.

„Was wir gesehen haben war: Leute kamen für einen Kaffee vorbei, für ein gesundes Mittagessen, aber auch wenn sie nichts essen wollten, einfach, um unter Menschen zu sein.“

Auch das neunerhaus-Café konnte wegen der Auflagen über längere Zeit nicht öffnen. Doch man wusste sich zu helfen: Nach der Verkündung des zweiten Lockdowns richtete neunerhaus den Take-Away ein. Dort konnten Menschen sich Essen holen und es dann in der nahegelegenen Grätzloase gemeinsam essen. „Was wir gesehen haben war: Leute kamen für einen Kaffee vorbei, für ein gesundes Mittagessen, aber auch wenn sie nichts essen wollten, einfach, um unter Menschen zu sein“, sagt Wahlhütter.

Laura Wahlhütter ist der Meinung, dass die Politik aus dieser Krise Schlüsse ziehen muss: „Es braucht mehr konsumfreie Begegnungsorte in der Öffentlichkeit und Räume, wo soziale Teilhabe möglich ist.“ Auch Hammer hat eine Forderung an die Politik: „Die Regierung muss bei der Krisenbewältigung von den Rändern her denken, nicht von der Mitte. Nicht im Rahmen der Kleinfamilie und des normalen Arbeitnehmers, sondern von Alleinstehenden, Arbeitslosen, Wohnungslosen her.“