Vorweihnachtszeit 2020. Die Einkaufsstraßen in europäischen Innenstädten sind fast leer. Geschäfte haben zu. Mancherorts gibt es abends Ausgangssperren, um die Corona-Pandemie einzudämmen.
Kein Geschenkeshopping. Kein Hüttengaudi. Kein Glühweintrinken. Kein Weihnachtsschlussverkauf.
Eine Katastrophe, finden die Einen und sorgen sich um den Verbleib des Bruttoinlandsprodukts und den Geschenkezauber zu Weihnachten. Gut so, finden die Anderen und spüren in der konsumbefreiteren Zeit einen Hauch von antikapitalistischer Revolutionslust.
Schließlich üben Ökobewegungen nicht erst seit Corona Kritik an grenzenlosem Konsum: Wir kaufen zu viel, schmeißen zu viel wieder weg, nutzen zu viele natürliche Ressourcen und beuten Menschen aus. Auch Klimaexpert:innen sind sich einig: Unser Konsumverhalten muss sich ändern.
Wer entscheidet, was zum Leben nötig ist und was zu viel?
Die Appelle an Konsument:innen sind trotzdem widersprüchlich: Gönn dir was – sei bescheiden. Genieße dein Leben – lebe bewusst. Spare Geld – kaufe keinen Billigschrott. Die Frage, was wir kaufen und wie viel davon, ist eine Arena, in der gesellschaftliche und politische Kämpfe ausgetragen werden. Es geht dabei um die großen Fragen: Um die Zukunft des Planeten, um Klassenkampf, um die Vorstellung davon, was ein gutes Leben ist, was richtig und was falsch ist.
Wer entscheidet, was zum Leben nötig ist und was zu viel? Wer kann sich Biobaumwollpullis aus dem Fairtradeladen leisten und wer nur Polyester von Primark? Wann ist ein Paar Markenschuhe reiner Überfluss und wann das Eintrittsticket zur sozialen Teilhabe? Und warum? Eine Abhandlung der drei unterschiedlichen Facetten des unübersichtlichen Problems.
Drei Facetten eines unübersichtlichen Problems.
Nachhaltigkeit als Privileg
Es gibt fair produzierte Smartphones, veganes Leder und nachhaltig produzierte Kleidung. Geschäfte bieten biologisch abbaubare Einkaufstaschen und recycelte Verpackungen an. Sie vermitteln den Eindruck: Die Welt könnte eine bessere sein, wenn wir bessere Produkte konsumieren.
Allerdings können sich diese Produkte nicht alle Menschen leisten. Oft stehen sich Geld und gutes Gewissen gegenüber: Sparen oder Gutes tun? Jeden Tag treffen wir diese Entscheidungen: Tiefkühlpizza vom Discounter oder Gemüse vom Bio-Markt? Ein nachhaltig produziertes Bio-Baumwollshirt oder die 9,99-Euro-Variante von H&M? Bio-Kaffee mit Fairtradesiegel oder Billigbrühe von Hofer? Selten ist die als nachhaltig angepriesene Variante auch die kostengünstigere.
Die Luxusgutthese besagt: Je mehr Wohlstand eine Person hat, desto eher ist sie dazu bereit, einen ökologisch nachhaltigen Lebensstil zu führen. Wichtig sei also weniger die Überzeugung und vielmehr der Geldbeutel. Die These der beiden US-Amerikanischen Ökonomen William Baumol und Wallace Oates ist weit verbreitet und leuchtet zunächst ein: Schließlich sind nachhaltige Produkte oft teuer. Wer zudem keine existentiellen Sorgen hat, kann sich eher mit Umweltschutz und dem eigenen Beitrag dazu beschäftigen.
Ein Text in einem Bericht der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen kam zum Schluss: Vegetarier:innen gaben in einer Befragung nicht überdurchschnittlich oft an, dass ihnen etwas am Klimaschutz oder an ihrer Gesundheit liegt. Dem stimmten nämlich auch Menschen zu, die Fleisch essen.
Statistisch sind Vegetarier:innen aber mit mehr kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital ausgestattet, als andere Menschen – also mit Geld, Bildung und Status. Diese Erkenntnis bestätigt die Luxusgutthese: Wer es sich leisten kann, verzichtet eher auf Fleisch.
Die Studie hat außerdem festgestellt, dass Vegetarier:innen überdurchschnittlich oft in Singlehaushalten leben und kinderlos sind, was ebenfalls oft mit einem höheren Wohlstand einhergeht.
Das klingt widersprüchlich, schließlich kostet Fleisch mehr Geld als beispielsweise Kartoffeln. Die Studie liefert Erklärungsansätze zum Zusammenhang: In Mitteleuropa etwa, ist traditionelle Kost fleischlastig. Ein Wechsel zu einer fleischlosen Ernährung setze daher ein gewisses Maß an Wissen voraus. Auf der einen Seite Wissen über den schädlichen Effekt von Fleisch für das Klima. Auf der anderen Seite Wissen über alternative Ernährungsformen.
Laut der Studie sei „kulinarische Experimentierfreudigkeit” eine der zentralen Voraussetzungen für eine dauerhafte Veränderung hin zu einer fleischlosen oder fleischreduzierten Ernährung. Diese kulinarische Experimentierfreudigkeit hat zur Bedingung, dass jemand internationale Reisen unternimmt oder regelmäßig im Restaurant isst. Somit ist sie an die finanziellen Möglichkeiten einer Person geknüpft. Wer immer nur Faschierte Laibchen mit Kartoffelpüree gegessen hat, so die Überlegung der Autorin, wird es wahrscheinlich weiterhin tun. Wem hingegen schon mal ein indisches Curry gekocht wurde, entdeckt damit womöglich fleischlose Alternativen.
Hinzu komme, dass Personen mit geringen Einkommen öfters mit psychischen Belastungen wie Stress, Überarbeitung und familiären Konflikten zu kämpfen haben und der Ernährung daher einen tieferen Stellenwert in ihrem Alltag beimessen.
Nachhaltigkeit als Zeichen von Armut
Beim Fleischkonsum stimmt die Formel also: Wer mehr Geld hat, konsumiert statistisch nachhaltiger. Die Luxusgutthese ist mittlerweile trotzdem umstritten. Denn das Thema ist komplizierter: Wer mehr Geld zur Verfügung hat ernährt sich zwar tendenziell eher fleischlos, belastet das Klima aber insgesamt überdurchschnittlich stark.
Das hängt etwa mit größeren Wohnungen, mehr technischen Geräten und Reisen zusammen, die in der einkommensstarken Schicht weiterverbreitet sind. So setzen die wohlhabendsten zehn Prozent der österreichischen Privathaushalte allein durch den Verbrauch von Sprit genauso viel CO2 frei, wie die ärmsten zehn Prozent der Haushalte insgesamt.
Menschen mit tiefem Einkommen sparen zwar bei den Nahrungsmitteln eher Geld und konsumieren dort am wenigsten nachhaltig. Dafür nutzen sie weit weniger Ressourcen in den Bereichen Wohnen, Mobilität und Technik.
Das einkommensschwächste Viertel aller Haushalte in Österreich hat im Schnitt rund halb so viel Wohnfläche zur Verfügung wie das einkommensstärkste Viertel. Außerdem verbrauchen Menschen mit hohem Einkommen über doppelt so viel CO2 durch Alltagsverkehr, als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Ein hoher Bildungsgrad hingegen führt wiederum zu nachhaltigerem Konsum. Die beiden Faktoren Einkommen und Bildung hängen zwar zusammen, denn wer einen höheren Bildungsabschluss hat, hat oft auch mehr Chancen, ein hohes Einkommen zu erhalten. Trotzdem wirken sie in gegensätzliche Richtungen.
Das heißt: Wer studiert hat, aber ein Einkommen über 4000 Euro verdient, der konsumiert von allen untersuchten sozioökonomischen Gruppen einer Studie von Rasmus Hoffmann am wenigsten nachhaltig. In dem Paper „Nachhaltiger Konsum nur für Reiche? Der Zusammenhang von Wohlstandsniveau und Konsumverhalten" heißt es dazu: „Das bedeutet, dass in dieser Gruppe die vorhandenen finanziellen Ressourcen ausnahmslos zu einem Mehrverbrauch und damit zu geringerer Nachhaltigkeit führen".
Zwar würden die gebildeten und wohlhabenden Personen mehr Recycling-Papier, Energiesparlampen und nachhaltigere Lebensmittel konsumieren. Laut der Studie gleiche das den sonstigen CO2-Verbrauch aber nicht aus. Am wenigsten belasten im Schnitt hingegen diejenigen Menschen die Umwelt, die ein Einkommen unter 2000 Euro haben, gleichzeitig aber über einen Hochschulabschluss verfügen.
Mehrere Studien kamen zum Schluss, dass Umweltbewusstsein nicht zwingend zu einem nachhaltigeren Lebensstil führt. Und dass Menschen nachhaltig leben können, aber dafür nicht den Klimaschutz als Grund nennen. In einigen Milieus etwa spielen traditionelle Werte wie Sparsamkeit, Gesundheit und Fürsorge eine wichtigere Rolle als das Klima. Und wer wenig hat, kann sowieso wenig kaufen.
Die Luxusgutthese ist mit diesen Erkenntnissen zumindest in Teilen widerlegt: Wer mehr Geld zur Verfügung hat, hinterlässt statistisch einen größeren CO2-Abdruck. „Menschen gewöhnen sich schnell an hohe Lebensstandards, wenn sie einmal mehr verdienen. Dann fällt das kürzer treten schwer", sagt etwa Soziologe Karl-Michael Brunner, der an der Wirtschaftsuniversität Wien unter anderem zu Konsumpraktiken forscht.
Dennoch sollte der nachhaltige Lebensstil einkommensschwacher Milieus nicht idealisiert werden. In einem Paper zum Thema Nachhaltiger Konsum und soziale Ungleichheit schreibt Brunner: „Ein häufig aus Mangel resultierender, im Ergebnis nachhaltigerer Lebensstil kann nicht als Vorbild gepriesen werden, da Ressourceneinsparungen oft mit einer sozial und ökonomisch nicht nachhaltigen Einschränkung von Lebensqualität einhergehen."
Nachhaltigkeit als sozialer Ausschluss
Am besten wäre es, nur zu kaufen, was wir wirklich brauchen. Bescheiden und bewusst leben. Lieber Second-Hand-Kleidung als Massenware von der Stange. Lieber wenig Biofleisch als viel Fastfood. Aber: Wer entscheidet darüber, was notwendiger Konsum ist und was nicht – und für wen?
Die Art und Weise, wie wir konsumieren schlägt sich nicht nur im CO2-Abdruck nieder. Sie bestimmt auch, wer welche Stellung in der Gesellschaft innehat.
Wie wir uns kleiden etwa, kann etwas über unseren sozialen Status verraten. Wer eine Rolex trägt, zeigt seinem Gegenüber: Ich kann es mir leisten. Wer hingegen nur die billige Raubkopie besitzt, offenbart: Für das Original hat das Geld nicht gereicht. So verfestigen sich Unterschiede zwischen den sozialen Klassen.
Nicht nur Preis und Qualität der Produkte spielen dabei eine Rolle. Auch die allgemeine Einstellung gegenüber Konsum macht Unterschiede zwischen sozialen Klassen sichtbar.
Eine ethnografische Studie zum Konsumverhalten armer Verbraucher in Chile kam zu folgendem Schluss: „In der Oberschicht und der oberen Mittelschicht, wird Konsumismus als Resultat von Ignoranz und Verantwortungslosigkeit der unteren Schichten gesehen. Wenn diese es besser wüssten, wird dort argumentiert, dann würden sie die Torheit ihres Verhaltens erkennen. Die Armen selbst sehen das anders. Für sie ist Konsumismus ein Weg raus aus der Armut."
So kann es etwa sein, dass eine Person aus einem nachhaltigkeitsbewussten und gebildeten Milieu gerne Second-Hand-Kleidung trägt, weil sie so ihre Ideale und umsetzen und nach außen tragen kann. Für eine arme Person birgt gebrauchte Kleidung hingegen die Gefahr von Stigmatisierung. Es kann für sie existentiell notwendig sein, das richtige Paar neue Markenschuhe zu tragen, um an der Gesellschaft teilzuhaben und Wertschätzung zu erfahren.
Es gibt viele Äquivalente dieser Art: Wer kein Smartphone besitzt, kann weniger an gesellschaftlichen Debatten teilnehmen. Wer eine kleine kalte Wohnung hat, mag unter Umständen keinen Besuch empfangen. Wer sich gewisse Kleidungsstücke nicht leisten kann, kann womöglich die eigene Gruppenzugehörigkeit nicht nach außen kommunizieren und fühlt sich so in der Entfaltung der eigenen Identität eingeschränkt.
All das erschwert die gleichberechtigte soziale Teilhabe dieser Menschen an der Gesellschaft. Konsum bedeutet immer auch, ein „konventionelles" Mitglied der Gesellschaft zu sein. Der erzwungene Verzicht auf Konsum hingegen, kann Menschen ausschließen.
Ein Beitrag aus der Publikation „Armutskonsum – Reichtumskonsum: Soziale Ungleichheit und Verbraucherpolitik" untersuchte das Konsumverhalten von Geflüchteten. Diese sind in ihrer Konsum-Freiheit besonders eingeschränkt, da sie von ihrem Aufnahmeland abhängig sind. Das sei besonders problematisch, „weil Konsumhandel für Geflüchtete Coping-Strategien beinhalten kann, mit der Erfahrung von Flucht und Verlust, aber auch mit ebendiesem Abhängigkeitsverhältnis umzugehen", erörtern die Autorinnen in dem Paper.
Das selbstbestimmte Kochen und Essen in Asylunterkünften etwa, könnte Geflüchteten dabei helfen, Machtverhältnisse herauszufordern, Autonomie und Würde zu unterstützen und eine soziale Identität aufzubauen und zu festigen. Doch oft sind sie dazu nicht frei, sondern müssen sich mit dem Angebot der Unterkünfte zufriedengeben.
Ernährung schafft aber nicht nur für Geflüchtete eine Ungleichheit innerhalb der sozialen Milieus: „Oft werden arme Menschen als zügellos, irrational und undiszipliniert in ihrem Konsumverhalten dargestellt", sagt Karl-Michael Brunner. Das sei eine Strategie der oberen Schichten, um sich von den unteren Schichten abzugrenzen.
Es gehe, so Brunner, beim Thema Konsum deswegen oft um die Legitimierung von sozialen Ungleichheiten. „Die oberen Schichten sehen ihren eigenen Konsum zum Beispiel oft als verfeinert an, den der unteren als bloße Bedürfnisbefriedigung."
Womit wir wieder beim Thema Nachhaltigkeit sind: Wenn der Konsum von umweltbelastenden Produkten als „unnötig" und „unvernünftig" bezeichnet wird, geht damit oft eine Herabwürdigung der Menschen einher, die so konsumieren – und das vertieft Gräben zwischen sozialen Milieus.
Außerdem wird bei solchen Zuschreibungen oft vergessen, dass Konsum immer auch soziale Teilhabe bedeutet. Und dass die Hürden für diese Teilhabe nicht für alle Menschen gleich hoch sind.