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Die brutale Schönheit des Nüchtern-Seins

Auf sozialen Medien finden das Sober-Curious und das Sobriety-Movement auch abseits von „Dry Janurary“ oder „Sober October“ ein immer breiteres Publikum. Angeführt wird das Movement von ehemals alkoholabhängigen Menschen. Wir haben mit einer Meme-Page-Creatorin und einer Psychologin über Alkohol, Sucht und das Nüchternwerden gesprochen.

Die Diagnose „Alkoholabhängigkeit“ ist in Österreich sowohl bei Männern als auch bei Frauen rückläufig. Während sich die Zahl der an Alkoholsucht erkrankten Personen bei Männern schon seit den 1970er Jahren reduziert, verzeichnet sich bei Frauen seit 10 Jahren ebenfalls ein rückläufiger Trend. Auch unter Schüler:innen nehmen Konsum- und Rauscherfahrungen ab. Trotzdem wird geschätzt, dass in Österreich immer noch 14 Prozent der Menschen – 19% der Männer und 9% der Frauen – Alkohol in einem Ausmaß konsumieren, das zu langfristigen Schäden führen kann. Dem positiven Trend stehen also immer noch in etwa 1 Million in Österreich lebende Personen gegenüber, die ein problematisches Trinkverhalten aufweisen.

Alkohol kann im Körper zu über 200 Krankheiten führen. Die häufigsten physischen Folgen sind: Leberzirrhose, periphere Neuropathien Eine periphere Neuropathie ist eine Störung eines oder mehrerer peripherer Nerven. Symptome sind beispielsweise sensorische Beeinträchtigungen, Schmerz, Muskelschwäche oder abgeschwächte Muskeleigenreflexe., Gehirnschäden, Herzmuskelschäden, Gastritis und Bauchspeichelentzündung. Folgen von jahrelangem und starkem Alkoholkonsum können auch zum sogenannten Korsakow-Syndrom führen: Personen, die unter dem Korsakow-Syndrom leiden, haben ihr Altgedächtnis durch Alkohol so sehr geschädigt, dass die Merkfähigkeit für neue Informationen stark beeinträchtigt ist. Alkohol greift das Herz-Kreislauf-System an, die Muskulatur, Speiseröhre, Magen, Darm, stellt ein Risiko für Krebserkrankungen dar, kann zu Potenzstörungen, Blutbildungsstörungen oder Anämie führen.

Im ICD-10, der internationalen Klassifikation psychischer Störungen, haben „psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ die Kategorie F10.2. Denn Alkohol kann auch schwere soziale und psychische Schäden nach sich ziehen: Alkohol kann Menschen verändern. In der Psychologie spricht man von der Persönlichkeitsveränderung. Aber auch Angsterkrankungen, Schizophrenie und affektive Störungen wie Depression oder Manie – um die beiden gegensätzlichen Pole der affektiven Störungen zu nennen – können aus Alkoholkonsum resultieren. Und Gewalt. Besonders häusliche und sexuelle Gewalt werden hier in Studien immer wieder erwähnt.

All das ist ein krasser Gegensatz zu dem, was uns die Werbung verspricht. Alkohol wird glorifiziert, als sozialer Klebstoff gepriesen, als ultimativer Weg zur Entspannung, mit Alkohol wird das Leben gefeiert. Zudem verpasst die Alkoholindustrie keine Chance, um Gruppen zu erreichen, die sie noch nicht getargetet hat: Vodka in Regenbogenfarben? Aber sicherlich. Wein, der „Mummy's Time Out“ heißt? Na klar.

Die Verantwortung liegt beim Individuum

Um Frauen als neue Zielgruppe zu gewinnen, wird Bier mit weniger Kalorien produziert und die Wine-Mom-Kultur hat sich on- und offline durchgesetzt. Die gezielte Vermarktung von alkoholischen Getränken für Minderheiten ist ebenfalls ein kontroverses Thema. Die Folge: Bevölkerungsgruppen ethnischer Minderheiten weisen eine überproportionale Belastung durch alkoholbedingte Erkrankungen auf.

Die Botschaft der Alkoholindustrie ist eindeutig: Menschen, die ein Problem mit Alkohol bekommen, können eben nicht mit Alkohol umgehen. Die Verantwortung liegt beim Individuum und wie so oft ist das eine schwierige Einstellung. Denn politische Maßnahmen können sehr wohl positive Effekte haben – das beste Beispiel hierfür ist das Nichtraucherschutzgesetz, das in Österreich 2019 in Kraft trat.

„Bei Tabakprodukten hat man gesehen, dass es mehrere Maßnahmen braucht.“

Lisa Wessely ist Klinische und Gesundheitspsychologin und leitet die Suchtprävention des Vereins Dialog, der größten ambulanten Suchthilfeeinrichtung Österreichs. Sie bringt hier einen wichtigen Punkt ein: „Bei Tabakprodukten hat man gesehen, dass es mehrere Maßnahmen braucht: Das Produkt ist teurer geworden, es hat die gesellschaftliche Akzeptanz verloren, es ist nicht mehr schick, sondern eher grausig, es gab gesetzliche Regelungen, das Alter wurde angehoben, der Nichtraucherschutz in den Lokalen wurde durchgesetzt.“ All diese Präventionen haben, so Wessely, irgendwann einmal Früchte getragen. So müsse es bei Alkohol auch sein – allerdings, betont sie, nicht mit dem Ziel, es in der Gesellschaft zu verbieten, sondern die Suchtgefahr zu reduzieren.

Bis der alkoholpolitische Diskurs über – ohne Zweifel wichtige – Aufklärungskampagnen hinausgeht, müssen Menschen, für die Alkohol zu einem Problem wird oder geworden ist, selbst Wege aus der Abwärtsspirale finden.

Das Sober-Curiosity- und Sobriety-Movement

Während es Menschen gibt, die der Alkohol abhängig gemacht hat, gibt es auch jene, die unter die Kategorie „Gray Area Drinkers“ fallen. Wer nach drei Tagen Exzess voller Scham und Reue „Habe ich ein Alkoholproblem?“ in einen Search Engine getippt hat, ist hier ziemlich sicher mitgemeint. Personen, für die der Terminus „alkoholkrank“ zu hart ist, die aber von ihrem eigenen Trinkverhalten merken, dass es zu einem Problem werden kann, fallen hier rein.

Diese graue Zone liegt irgendwo zwischen wenigen Drinks am Abend und alkoholinduzierten Tiefpunkten, die einen in Frage stellen lassen, warum man sich das alles antut. Hinweise, dass man sich in dieser „Zone“ befindet, können sein: Man merkt, dass man zu viel Alkohol konsumiert, konsumiert ihn aber weiterhin, aber auch, dass Alkohol stark in den Alltag und das soziale Leben integriert ist. Die Frage, warum man überhaupt noch Alkohol konsumieren sollte, hat sich auch Ruby Warringtion gestellt, die 2018 mit ihrem Buch den Begriff „Sober Curious“ prägte. Die Message: völlige Abstinenz. Jene, die der Alkohol abhängig gemacht hat und jene, die sich in dieser grauen Zone wiedergefunden haben, riefen das Sober-Curious- und das Sobriety-Movement ins Leben, das sich – wie so vieles – vor allem auf sozialen Medien gefunden hat.

Einige dieser Sobriety-Accounts wurden von ehemals alkoholkranken Frauen kreiert, die auch Bücher zu dem Thema veröffentlicht haben. Millie Gooch erzählt in ihrem „The Sober Girl Society Handbook“ ihre Geschichte. Wie Alkohol sie langsam zerstört hat und wie sie ihren problematischen Umgang mit Alkohol in den Griff bekommen hat. Und sie macht klar, dass es den klassischen Rock Bottom auch gar nicht braucht, um mit dem Trinken aufzuhören: „The point is, if you see a fire taking hold, you put it out. You don’t wait until the blaze is so big that it burns down your house before taking action“, schreibt sie.

Ihr Buch und viele Sobriety-Instagram-Pages haben einiges gemeinsam: pinke, freundliche Farben. Die Abstinenz sieht aus wie ein Wunderland aus Zuckerwatte, Glitzer und dem Versprechen, dass alles gut wird. Das ist auch gut so und kann für viele Menschen genau die Community und die Motivation sein, die sie suchen. „Leute versuchen, sich auf Social Media gut darzustellen, schön darzustellen, aber als ich mir die Seiten angesehen habe, war ich überrascht, dass hier ein perfect sober life präsentiert wird und das finde ich schwierig“, sagt Lisa Wessely.

Sie findet es prinzipiell schwierig, wenn sich Menschen perfekt inszenieren und was man anderen Menschen damit vermittelt: „Das erste Nüchtern-Sein ist ganz hart, weil man nüchtern zurückblickt auf eine Zeit, in der man beeinträchtigt Sachen gemacht hat, auf die man oft nicht stolz ist.“ Beim Verein Dialog versucht man deshalb, Klient:innen auf diese nüchterne Phase vorzubereiten: „Wir gehen darauf ein, dass es viele tolle Momente geben wird, in denen man viel spürt, aber das bedeutet auch, dass man auch die schlimmen Sachen viel mehr spürt.“ Diese Message fehle ihr bei diesen Seiten.

Brutal Recovery

Lauren McQ – auch Loz genannt – betreibt die Instagram-Page @brutalrecovery und auch ihr fehlte diese Message. Loz kommt aus Schottland, wo sie in einem Umfeld aufgewachsen ist, in dem Alkohol und Trinken normalisiert waren und es sehr einfach war, sich zu verstecken, „weil alle um mich herum genauso betrunken waren wie ich“, sagt sie. Sie hat getrunken, um nicht sie selbst sein zu müssen und nicht, um sich zu amüsieren. Alkohol gab ihr die Vorstellung, ein „normaler“ Mensch sein zu können und auch wie andere Menschen zu fühlen. In der Hoffnung, ihre Probleme würden sich lösen, ging Loz auf eine Musikschule: „Ich dachte, dass die Musikschule alle meine Probleme lösen würde, dass sie auf magische Weise verschwinden würden, aber es wurde schlimmer“, erzählt sie.

Sie verstand nicht, warum sie mit Musik, Sprachen und anderen Dingen diszipliniert war und gleichzeitig ihren Alkoholkonsum nicht kontrollieren konnte. Sie brach ihre eigenen Versprechen, zog mit ihrem damaligen Freund zusammen, der heroinabhängig war und auf einer Matratze auf dem Boden lebte – „This is fine!“, redete sich damals ein. Dann bekam sie ein Stipendium: „Ich bin dann in die USA gezogen, weil ich mein Leben in Schottland sozusagen in Schutt und Asche gelegt hatte.

Zunächst verschlimmerte sich ihre Situation: „Es eskalierte wirklich schnell, ich war suizidal, depressiv und versuchte einige Male, mir das Leben zu nehmen“, schildert Loz ihre Vergangenheit. Als ihr Umfeld merkte, dass sie oft tagelang nicht auftaucht, wird sie öffentlich auf ihren Konsum angesprochen und bekommt Hilfe: Therapiesitzungen, sie begann das 12-Schritte-Programm und für ihre Bulimie wurde ihr ein Ernährungsberater und eine Sportgruppe vermittelt. „Wäre das nicht passiert, ich weiß nicht, ob ich noch am Leben wäre.“

„Diese Beziehung zu anderen Menschen mit Drogenmissbrauch und psychischen Problemen ist mir wichtig. Wir sind miteinander verbunden.“

Als sie neun Monate nüchtern war, wurde ihr Gesundheitszustand stabiler, aber einfach war es für sie nicht. Sie war früher prinzipiell nicht viel auf sozialen Medien unterwegs – als sie dort nach Gleichgesinnten suchte, wurde sie jedoch nicht fündig. Sie konnte mit dem, was sie auf Instagram sah, nichts anfangen. Denn auch für sie fühlte sich die erste Nüchternheit nicht pink und glitzernd an.

Also hat sie @brutalrecovery ins Leben gerufen, um dort ihre Erfahrungen zu teilen: „Das hat mir unfassbar geholfen. Diese Beziehung zu anderen Menschen mit Drogenmissbrauch und psychischen Problemen ist mir wichtig. Wir sind miteinander verbunden. Es ist die eine Sache, von der Gesellschaft missverstanden zu werden, aber die andere, wenn man gemeinsam missverstanden wird“. Und das ist es auch, was ihr geholfen hat: „Nicht die glitzernden Dinge, sondern Menschen, die mir sagten: ‚Das ist das verdammt härteste, das ich je gemacht habe, aber du musst es tun.‘“

Auch aus psychologischer Perspektive, so Wessely, kann diese Art der Auseinandersetzung mit Sucht eher hilfreich sein als eine polierte, die den Anschein macht, es wäre einfach. Besonders wichtig ist für sie aber die Prävention.

Hier sei besonders die Elternarbeit ein wichtiger Faktor. Was leben Eltern ihren Kindern vor und wie wird ihnen das Thema Alkohol vermittelt? „Man kann hier als Eltern viel falsch machen. Das größte Problem ist aber, wenn es gleichgültig ist, wenn das Kind betrunken nach Hause kommt und es nicht zum Thema gemacht wird. Das heißt nicht, dass ich eine Konsequenz geben muss, aber man sollte es thematisieren.“

Dass Jugendliche ein Anrecht auf eine Rauscherfahrung haben, steht ihrer Meinung nach außer Frage, aber „im kontrollierten Rahmen.“ Jugendliche, die zum Verein Dialog kommen, nützen Alkohol, Heroin oder Benzodazepine oft als Selbstmedikation, was sehr gefährlich werden kann. „Wenn Jugendliche auf Homepartys trinken oder konsumieren, ist es sehr wichtig, dass sie zumindest eine erwachsene Person haben, die sie sich trauen anzurufen, sollte jemand nicht ansprechbar sein“, sagt sie und ergänzt: „Man wird nicht verhindern können, dass sie diese Erfahrung suchen.“

Jung gefühlt hat sich Loz nie. Sie hatte schon seit früh an ein schweres Trauma und ist, sagt sie, deshalb schnell gealtert. „Ich fühlte mich immer wie eine Erwachsene im Körper eines Kindes. Und es war tatsächlich interessant, nüchtern zu werden und diese Kindheit zum ersten Mal zu spüren“, erzählt sie. Begonnen zu trinken hat sie mit 14, nüchtern wurde sie mit 25. Wegschieben möchte sie das Mädchen, das in den Alkohol geflüchtet ist, nicht: „Ich liebe das Mädchen, das ich war, als ich noch trank. Es hatte Überlebensinstinkte, denn eigentlich sollte es tot sein. Aber es hielt sich irgendwie am Leben. Es wusste, wie, und ich bin so stolz auf dieses Mädchen.“

Heute beschreibt sie sich als warmherzig, sie interessiert sich für Menschen, stellt Fragen, sie geht tanzen, essen, klettern. Dinge, die sie in ihrer aktiven Sucht nicht getan hat. Dieses Vorurteil, dass Nüchternheit auch Langeweile bedeute, hält sich hartnäckig, aber für Loz zeichnet sich ein völlig anderes Bild.

Wer in Österreich lebt und Alkoholpausen einlegt, kennt dieses Vorurteil nur zu gut. Alkohol ist fest in unserer Kultur verankert, für viele Regionen ist er ein Wirtschaftsfaktor und die Gastronomie verdient viel Geld damit. Globale Alkoholpausen wie „Sober October“ oder „Dry January“ sind wichtig, um sich diesem kulturellen, oft leichtfertigen, unreflektierten Konsum zu entziehen und Bewusstsein zu schaffen.

Schon nach kurzer Abstinenz finden im Körper – abhängig vom vorherigen Konsumverhalten – wahrnehmbare (und vor allem gute!) Veränderungen statt. Bereits nach zwei Wochen verbessert sich die Schlafqualität, die Leistungsfähigkeit ist gesteigert und, ja, auch die Stoffwechselvorgänge verbessern sich. Nach drei Monaten kommt es zu geistiger Klarheit, Selbstbewusstseinssteigerung (unter anderem, weil man ein Ziel erreicht hat), ein besseres Körpergefühl tritt ein, Haut, Psyche und Immunsystem stabilisieren sich, die emotionale Stabilität ist gefestigter und: Freude an der Nüchternheit tritt ein. Am Ende des Tages sollte man sich immer auch die Frage stellen, warum man Alkohol konsumiert und hier ansetzen. Das Problem ist auch, dass man oft schöne Erfahrungen mit Alkohol in Verbindung setzt: Das erste Mal Ausgehen, Freund:innen kennenlernen, etc. Aber all diese Erfahrungen sind ohne Alkohol noch sehr viel besser. Und: Man kann sich an sie auch erinnern.

Loz betreibt neben ihrer Meme-Page nun auch den Recovery-Podcast Brutal Vulnerability, in dem über Sucht, Trauma, Essstörungen und ähnlich Bedrückendes – aber zur Lebensrealität sehr vieler Menschen gehörendes – gesprochen wird. Ihre Erfahrung hat ihr gezeigt, wie wichtig es sein kann, eine Community zu finden, mit der man sich identifizieren kann, in der sich Menschen gesehen und verstanden fühlen, die nichts schönt, aber dennoch ein Sinnbild dafür ist, wie viel besser ein Leben ohne Alkohol sein kann.