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Vom geheimen Reisepass zur Freiheit - wie ich mich selbst zur Frau machte

„Unsere Mädchen machen so etwas nicht.“ Dieser Satz hat sich schon seit frühester Kindheit in meinen Kopf eingebrannt. „Unsere Mädchen“, damit meinten meine Eltern immer: Arabische Mädchen, Töchter muslimischer Eltern. Solche wie ich und meine beiden Schwestern. Unsere Mädchen übernachten nicht bei ihren Freundinnen. Unsere Mädchen spielen nicht mit Burschen. Unsere Mädchen ziehen keine bauchfreien T-Shirts an. Unsere Mädchen gehen nachts nicht feiern, sie verwenden keine Tampons, haben keinen Freund. Sie ziehen nicht von Zuhause aus, bis sie verheiratet sind. Unsere Mädchen machen keine Auslandssemester, treffen sich nicht mit ihren männlichen Arbeitskollegen. Unsere Mädchen reisen nicht ohne männliche Familienmitglieder.

Was sollen die Leute denken?

Unsere Mädchen bleiben Mädchen, bis sie heiraten. Denn erst durch die Ehe wird man zur Frau. Unsere Mädchen heiraten nur einen Muslim. Meine Pubertät war dementsprechend keine Wandlung vom Mädchen zur Frau – sondern bedeutete immer weitere Verschärfungen, immer weitere Einschränkungen, die bis in die tiefste Intimsphäre griffen. Der psychische Druck, der gemeinsam mit dem Ruf der Familie einzig auf den Schultern der Töchter zu lasten schien, wuchs immer weiter. Je älter ich wurde, desto größer wurde das Unbehagen. Ich realisierte, dass mein Körper nicht mein Eigentum war, sondern das meiner Familie. Dieser Schluss stand diametral zu dem, was all die Verfechterinnen und Verfechter des weiblichen Empowerments im Internet predigten. Die Geschlechtertrennung von klein auf war ein wesentlicher Bestandteil meiner Erziehung gewesen und setzte sich in alle Lebensbereiche fort: In der Schule, in der Freizeit, auch – längst volljährig – auf der Universität. Ich lehnte dies im Inneren ab, doch nach außen hin musste ich gehorchen, meiner Familie keinen Ärger machen, ihren Ruf bloß nicht zerstören. Was werden denn sonst die Leute denken? „Die Leute“ – das war ein obskurer Mob von Menschen aus unserer arabisch-muslimischen Community, Freunde der Familie, die ihre Kinder nicht anders erzogen. Das Schlimmste, was man seiner Familie antun konnte, war es, als ihre Tochter auf der Straße mit einem Mann gesehen zu werden. Dabei musste dieser Mann nicht unbedingt ein Liebhaber sein, es reichte, wenn er denselben Kurs besuchte, oder einfach nach dem Weg fragte. Warum ich mein Leben nach den Vorstellungen anderer zu leben hatte, leuchtete mir niemals ein.

Grenzen erkennen und überwinden

Meine Rebellion gegen diese rigiden Wertvorstellungen begann zunächst als versteckter Kampf. Im Volksschulalter durfte meine jüngere Schwester an islamischen Feiertagen wie dem Zuckerfest oder dem Opferfest der Schule fernbleiben. In der Früh ging es stattdessen am Freitag zum Gebet in die Moschee. Mir war es unangenehm, dass mein Vater meine Mutter und uns Töchter im Gebetsraum verließ, um vorne beim Altar bei den anderen Männern zu stehen. Frauen und kleine Kinder hielten sich im hinteren Bereich des Gotteshauses auf, der zusätzlich mit einem Vorhang abgetrennt wurde. Den schönen, mit Ornamenten verzierten Altar sahen wir während des Gebets überhaupt nicht. Stattdessen hörten wir die Predigt des Imams über einen Lautsprecher, obwohl wir uns alle im selben Raum befanden. Unabhängig davon, ob man sich als Frau im Alltag verschleierte oder nicht, mussten wir unser Haar und unsere Körper mit einem langen Schleier verhüllen. Das ist so vorgeschrieben. Für mich kam diese Verhüllung einem Identitätsverlust gleich – mir kam es vor, als ob der Vorhang in der Moschee ein und denselben Zweck hatte wie der Schleier auf meinem Kopf: Frauen unsichtbar zu machen, hinter den Männern zu verstecken.

Weibliche Intimität auf dem familiären Verhandlungstisch

Schon bald wollte ich an den islamischen Feiertagen lieber in die Schule gehen als in die Moschee. Das war die früheste Befreiung, die ich für mich einforderte. Viele Jahre später bewahrheitete sich meine kindliche Vorahnung mit folgender Aussage meiner Mutter: „Den besten Ruf, den eine Frau haben kann, ist gar keiner. Am besten ist es, wenn sie niemanden von sich reden macht.“ Wenn ein Junge schreiend auf dem Spielplatz mit einem Stock auf andere Kinder einschlug, wurde er für sein Verhalten gelobt. Ein Krieger wird er einmal werden! Ein starker Mann, der ein Oberhaupt wird! Bei den Mädchen wird ein solches Verhalten sofort untergraben, damit sie bloß nicht zu vorlaut werden. „Du wirst mal eine schöne Braut“, war das höchste Kompliment, das die Freunde meiner Eltern mir machen konnten. Meine Ambitionen, meine Kreativität, meine guten Noten und das angestrebte Studium waren alles nur Dinge, die später meinen Wert auf dem Heiratsmarkt verbessern würden. Das am wenigsten diskutierte, aber gleichzeitig höchste Gut bleibt aber: Die Jungfräulichkeit bis zur Ehe. Das ganze Leben lang wurde ich, wie auch all die anderen Mädchen aus meinem Umfeld, von Männern ferngehalten – dann soll man aber plötzlich heiraten. Es ist absurd, wie die weibliche Sexualität so lange unterdrückt und jegliche Form von Intimität aus unseren Händen genommen wird, nur um sie zum passenden Zeitpunkt auf dem familiären Verhandlungstisch auszubreiten und zu vermitteln.

Wer sich nicht an die Spielregeln hielt, wurde in der Community geächtet und musste im schlimmsten Fall mit einem Verstoß aus der Familie rechnen. Auch die Drohung, dass man zur Strafe in das Heimatland der Eltern geschickt werden würde, um dort „zu lernen, wie man lebt“ ist weit verbreitet. Für eine junge Frau, die niemals die Möglichkeit hatte, ihre Stimme zu finden und – im Falle der Ungerechtigkeit – auch zu erheben, stellt diese Drohung eine kaum überwindbare Hürde dar. Nicht nur im religiös-konservativen Sinne, sondern auch als typische Migrantenfamilie hieß es bei uns stets: Familie geht über alles. Einerseits beneideten mich viele meiner autochthonen Freundinnen und Freunde darum, dass ich vier Geschwister hatte und – im Fall des Falles – alle gemeinsam eine Lösung für ein Problem fanden. Jedoch ist so ein starker Familienverband gleichzeitig ein Käfig, aus dem man nur mühselig ausbrechen kann, wenn man die Erwartungen, die an einen gestellt werden, nicht erfüllen kann oder will.

Der geheime Reisepass

Uns Mädchen wurde stets eingetrichtert, dass wir erst dann im Leben etwas erreicht haben, wenn wir heiraten und mit unseren Ehemännern zusammenziehen, um eine Familie zu gründen. Doch wie sollte ich in der Ehe endlich mein eigener Mensch sein können, wenn ich es zuvor niemals gewesen war? Man erzog uns förmlich zur Abhängigkeit von der eigenen Familie und dann später zur Abhängigkeit vom eigenen Ehemann – so wie es die Mutter meiner Mutter mit ihr gemacht hatte. Dass wir in der Ehe endlich alle Freiheiten hätten, die uns als Mädchen vorenthalten wurden, entpuppte sich so als Trugschluss. Ich wollte diese über Generationen weitergegebene Tradition, dieses Weiterspinnen von weiblicher Abhängigkeit, durchbrechen. 

So ging ich weg von zuhause. Ich hatte mit 19 Jahren einen geheimen Reisepass, da mir mein richtiger Pass kurz vor einer geplanten Reise nach Prag von meinen Eltern gestohlen wurde. Zwar stritten sie immer ab, dass sie etwas mit meinem verschwundenen Pass zu tun gehabt hätten, aber diese Lüge war zu dieser Zeit mehr als willkommen. Genug war genug. All meine Dokumente, die ich für die Neuausstellung gebraucht hatte, musste ich mir aus dem Standesamt besorgen. Ohne die Motivation, endlich mit meinem damaligen Freund zusammen sein zu können, hätte ich das aus Angst niemals durchgezogen. Gewalt, auch physische, ist ein bis heute totgeschwiegenes Thema im Zusammenhang mit den patriarchalen Strukturen in vielen konservativen Familien. 

Nach meiner Rückkehr aus der westukrainischen Stadt Lviv, in der ich mehrere Wochen mein Handy auf Flugmodus schaltete und weitere Schritte meines Ausbruchs aus den Fängen meiner Familie vorbereitete, musste ich natürlich mit allen Konsequenzen rechnen. Dieser Kampf war mit einer unglaublichen Einsamkeit verbunden – einerseits deshalb, weil ich niemanden kannte, der dasselbe wie ich durchmachte. Es ist ein lähmendes Gefühl, nach einer langen Zeit der Abhängigkeit plötzlich auf eigenen Beinen stehen zu müssen. Denn ein Zurück gibt es nicht mehr. Andererseits lernte ich, dass Einsamkeit einen großen Teil von Selbstbestimmung ausmacht und leider eine Sache ist, mit der man sich auf lange Sicht anfreunden muss. Es war ein Kampf, Eine gegen alle. Und dieser zieht sich sogar noch bis in die Gegenwart, obwohl ich bereits mit 20 Jahren auszog.

Einsamkeit als ständiger Begleiter – aber auch Kraft

Sechs Jahre später habe ich mir eine Karriere als Journalistin aufgebaut, in der ich mich gerne kritisch mit den Rollenbildern in der arabisch-muslimischen Community auseinandersetze. Sei es das Tabu um Tampons, die Obsession mit der Jungfräulichkeit, der Umgang mit Mohammed-Karikaturen oder das problematische Frauenbild. Doch auch in dieser Sache bleibe ich oftmals eine Einzelkämpferin. Obwohl ich mich stets als politisch links einordnete, fehlte seitens der Linken oftmals Zuspruch und Anerkennung für meine Kritik. Im Gegenteil, es gab immer wieder Menschen, die mir den Mund verbieten wollten, mir das Recht absprechen wollten, überhaupt eine Plattform für meine Meinung zu bekommen. Immer noch sind die Berührungsängste mit solchen unliebsamen Themen innerhalb einer von der Mehrheitsgesellschaft diskriminierten Gruppe zu groß. Man wolle doch nicht den Rechten in die Hände spielen – doch am Ende des Tages leiden all diejenigen Mädchen und Frauen unter dieser Tabuisierung, die bis jetzt nicht den Mut hatten, sich von ihren Familien zu emanzipieren und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Es ist ein Schlag ins Gesicht für all jene Frauen, die sich dem familiären Druck zur Verschleierung oder Heirat eines Cousins fügen – weil sie keine Alternative sehen.

Doch es gibt einen Lichtblick: Die Art, wie ich erzogen wurde, wird hoffentlich durch Aufklärung zu einem Auslaufmodell. Und ich kämpfe weiter dafür, dass auch andere junge Frauen ihr Leben in die Hand nehmen, um ebenso zur letzten Generation zu gehören, in der ihre Integrität und Individualität keine Rolle spielen.