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Die gefährliche Darstellung der Diversity bei Germany*s Next Top Model

Nach Georges Bataille hängt das Vergnügen von der Perspektive ab. Wobei im Kern des Vergnügens eine provokante, als Ekel verkleidete Traurigkeit liegt. Im Fall der neuen Staffel von Germany*s Next Top Model, ist die Perspektive der Zuseher:innen eine, vor der sich Abgründe zugunsten von Einschaltquoten und auf Kosten junger Frauen („Meine Mädchen!“ *Heidivoice*) auftun. Wir sind 02:30 Minuten in der ersten Folge der 16. Staffel – eine junge Frau stürzt, eine andere wird von Sanitäter:innen gestützt. Eine weitere junge Frau stürzt und in der nächsten Szene erscheint das Gesicht von dem Mann, der die Kandidat:innen nach dem Sturz bewerten wird. Statt 2 Minuten 2 Millionen haben wir 3 Minuten, Tränen, Angst und Schmerzen – und Humankapital.

„Ich möchte Plus-Size-Models im Business fördern. Plus-Size, Transgender-Models, Nonbinary-Models, Models mit Behinderung oder auch ältere Models. Die sieht man einfach noch zu selten", sagt Heidi Klum. Hinter der Heidi Klums vermeintlichem Empowering steht allerdings eine Firma, die ökonomische Interessen verfolgt und für die Diversity vor allem eine Chance ist, sich neu zu positionieren. „Das ist auch eine politische Frage", erklärt die Psychologin Natalie Rodax, die seit 2017 unter anderem im Bereich der kritischen Sozialpsychologie forscht. „Das eine, was hier dahintersteht ist Diversity Management. Ein Betrieb muss gewissen Anforderungen Folge leisten.“ Wenn jemand sagt, man müsse sich modernisieren, man müsse gewisse soziale Kategorien repräsentieren, dann müsse man diesen Anforderungen Folge leisten.

Es geht nicht nur darum, dass es Diversity per se gibt, es geht auch um die Darstellungen ethnischer oder geschlechtlicher Identitäten, die allerdings durch die eingesetzte Rhetorik zum Scheinargument werden. „Mira, you start, Alex in the middle and I think, yes, the exotic lady, Liliana.“ Liliana ist eine 21-jährige Person of Color und Manfred Thierry Mugler der Mann, der die Glaubwürdigkeit der mehrfach erwähnten Diversity schon in der ersten Folge zu Staub zerfallen lässt. Trotz vermeintlicher Bemühungen hat GNTM nach wie vor ein neoliberales Verständnis von Identitäten, das von einem hegemonialen Weltbild geprägt ist. Die Darstellung von Ethnizität, Gender oder Behinderung werden aus der Entscheidungskraft der jungen Frauen genommen.

„Mira, you start, Alex in the middle and I think, yes, the exotic lady, Liliana.“

„Diversity ist auf der einen Seite natürlich positiv – also wenn wir von Marginalisierung im Sinne von Spivak und der postkolonialen Theorie ausgehen und gewisse Gruppen nicht im Diskurs vorkommen. Diese Gruppen werden nicht gehört, nicht gesehen, es gibt  eine hegemoniale Dominanz von westlichen weißen Frauen. Es ist ein Fortschritt, wenn andere Positionen sichtbar werden – eine Art Luminosität würde McRobbie sagen”, gibt Natalie Rodax zu bedenken. Das Problematische: Diese Sichtbarkeiten hängen an einem Vertrag, einem patriarchalen Vertrag.

Denn wie alle anderen Staffeln bisher, ist auch S16 für den männlichen Blick ausgelegt und vollzieht sich über den Körper. Und hier liegt die Problematik: GNTM bedient sich einer performativen Soft-Wokeness, indem sich die Show als modern und sensibel für die Forderungen der Gesellschaft inszeniert. Gleichzeitig werden aber alte Strukturen reproduziert und das hat gefährliches Potenzial. Die vermeintliche Veränderung maskiert die Fixierung auf das Äußerliche. Es herrscht eine Ambivalenz, die sich Medienprodukte wie Castingshows zu eigen gemacht haben und hier spiegelt sich auch die Machtstruktur der Medien wider. Weiblichkeit wird immerzu durch den Körper abgehandelt. Frauen dürfen einerseits auf den ersten Blick mehr. Auf den zweiten Blick bedienen sie sich jedoch an Werten, die gegen ihre Interessen arbeiten. Einerseits werden Frauen in Führungspositionen sichtbar. Andererseits macht etwa die Soziologin McRobbie darauf aufmerksam, dass „the working girl“ auch lernen muss, „how to dress so that she too embodies ‘complete perfection’“ und gleichzeitig „remain endearingly feminine“, und Verkörpern der “conventional female vulnerability”. (McRobbie, 2009, p. 79)

In diesem Kontext muss man auch über die Ästhetik und das Schönheitsbild sprechen, die den popkulturellen Diskurs nachwievor dominieren. Anders als in den vorherigen Staffeln von GNTM, in denen es gewaltähnliche Nacktshootings gab, haben sich die Macher:innen der Sendung in der aktuellen Staffel – und hier muss man immer die angepriesene „Modernisierung“ mitgedacht werden – an Ideenreichtum selbst übertroffen, indem sie die „Mädchen“ in hautfarbenen Höschen, Nippel-Patches und etwas Schaum-Coating über den Laufsteg jagen. Klum weiht eine der jungen Frauen ein, indem sie pantomimisch eine Ganzkörper-Rasur andeutet.

Der Körper muss glatt sein, er muss befreit sein von Haaren, diszipliniert und devot. Die Frauen müssen am Laufsteg in Kleidung der österreichischen Designerin Marina Hoermanseder performen. Die gehörlose Teilnehmerin Anna-Maria Schimanski hinterfragt die Kreationen, die ihr zugeteilt werden. „Gefällt mir nicht, gibt es nicht. Wenn ich einen Catwalk plane und Models caste oder fitte und jemand sagt, ‚gefällt mir nicht‘, ist das für mich schnell ein Ausschlusskriterium“, hört man Hoermanseder im Off. Ein Nein wird nicht akzeptiert. Mit einem Lächeln im Gesicht müssen sich die Teilnehmer:innen unterordnen. „Dieses Frausein ist bei GNTM nicht laut sein, ist nicht unangenehm sein, ist nicht nicht ästhetisch sein“, ordnet Natalie Rodax die Situation ein.

Als Maria dem Publikum vorgestellt wird, kommen gezielt Untertitel zum Einsatz. Diese fallen später aus und werden durch eine Übersetzerin ersetzt. Dadurch wird Maria als „Andere“ inszeniert. Sie ist nicht „normal“, nicht wie wir, sie wird hervorgehoben. Laut Natalie Rodax müssen sich „normale“ Positionen nicht erklären, sie brauchen keine Untertitel, „aber es ist auf jeden Fall eine Normalitätskonstruktion, die sich mit dem Diversity-Management auch nochmal stärkt“. Dieses Hervorheben war auch schon in vorherigen Staffeln ein Problem. In Staffel 14, Folge 4, wurde Transfrau Tatjana zu ihrer Geschlechtsangleichung befragt. Bei den Fragen handelte es sich sehr persönliche, starke Emotionen provozierende Fragen rund um ihre Familie und ihre Transformation. Dieses Hervorheben und Betonen ihres „Anders-Seins“ spiegelte sich in der gesamten Staffel wider. Auch in Staffel 15, Folge 7, musste Lucy Hellenbrecht über ihre Sexualität sprechen: „Stehst du auf Männer oder auf Frauen? (…) War das Thema Sex nie ein Problem bei (dir und deinem Partner) euch?“. Aus intersektionaler Perspektive, so die Psychologin Rodax, sei das Hierarchiegefälle hier nicht mehr nur zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen der westlich dominanten Frau und der „anderen“ Frau - im Sinne Beauvoirs ist die „andere“ Position hier auch immer bezogen auf eine dominante, hier aber eben nicht mehr „nur“ männliche Position-, die sich als neue Differenzlinie einzieht.

Diese Betonung der westlichen Frau wird in der aktuellen Staffel schmerzhaft sichtbar, als sich die 20-jährige Soulin aus Syrien vorstellt, die bis zu ihrem elften Lebensjahr in dem Nahost-Staat lebte und seit fünf Jahren in Deutschland lebt. Während Soulin ihre Geschichte erzählt, werden Bilder der Zerstörung gezeigt. Bomben, Menschen, die in Trümmern stehen. Es ist zwar wichtig, diese Geschichte zu erzählen, jedoch wird hier auf das Stilmittel der Selbsterhöhung zurückgegriffen. Das ist zutiefst verwerflich und verweist auf die neoliberalen Strukturen, die der Sendung zugrunde liegen. Rodax gibt zu bedenken, dass dies ein Phänomen vieler Casting-Shows sei. Es zeigt, dass es immer besser ist, aus einer schwierigen Situation zu kommen. Vom:n der:m Tellerwäscher:in zum:r Millionär:in. Self-Made ist das dominierende Narrativ westlich kapitalistischer Gesellschaften. Man muss nur genug leisten, um die Vergangenheit zu überwinden.

„Zwei Momente sind in dieser Rhetorik wichtig“, zeigt Rodax auf. „Erstmal macht es sie zu einer westlichen Handelnden, einer Agentin, sie wird in diese neoliberale Rhetorik eingespeist und sie produziert dazu Quoten. Ihre Geschichte ist hochemotional also auch appealing. Und das Zweite ist: Es wertet den Westen auf.“

„Das stellt eine ganz klare westliche Konstruktion hervor, indem man alles Traurige, Schlechte, Traumatisierende in ein anderes ethnisches Gebiet projiziert.“

Vor einem Millionenpublikum wird eine ganz klare Distinktion zur Schau gestellt: Bei uns im Westen ist es modern. Wir haben keinen Krieg, hier muss niemand flüchten. Wir sind weiterentwickelt, negative Konnotationen bleiben anderen Gesellschaftssystemen vorbehalten. „Das stellt eine ganz klare westliche Konstruktion hervor, indem man alles Traurige, Schlechte, Traumatisierende in ein anderes ethnisches Gebiet projiziert. Zudem ergibt das ein seltsam anmutendes Prisma: Zum einen wertet sie Soulin uns auf, weil sie die globale Frau repräsentiert, sie ist unser Diversity-Management, gleichzeitig affirmiert sie den Schönheits- und Ästhetik-Diskurs“, benennt die Psychologin das Problem.

Hier werden Machtstrukturen aufgezeigt. Diese Machtstrukturen ziehen sich durch die gesamte Show – sei es eine Hoermanseder, die den Models ihren Platz zeigt oder wie jeder Entscheidungswalk ein Ausüben von Macht ist. Die jungen Frauen werden zu Objekten degradiert, denen Manipulierbarkeit in allen Facetten beigemessen wird. In Folge 9 geht diese Macht in Gewalt über: Den jungen Frauen steht ein Shooting in 122 Metern Höhe bevor. Auf dem Hotel Park Inn am Berliner Alexanderplatz, wo sonst Freiwillige baseflyen, müssen sich die Models bei eisiger Kälte in das Base-Flyer-Geschirr legen, um in die Höhe gezogen zu werden und über dem kalten und nassen Asphalt der Stadt zu schweben.

Als die Teilnehmerin Linda hochgezogen wird, zeigt sie offensichtlich, dass sie Angst hat. Klum bringt sich mit einem „Oh, die hat Angst!“ ein und während Linda in sichtlicher Panik Tränen der Angst kommen, kommentiert Heidi: „Aber das Gesicht kannst du gleich nicht machen.“

Ein Mensch hängt voller Angst in 122 Metern Höhe und niemand hilft ihr – das ist Macht in seiner ekelhaftesten Form. „Ob es jetzt 122 Meter sind oder 123, das macht jetzt keinen Unterschied mehr, weißte“, ruft Heidi Klum der jungen Frau aus ihrem Sessel zu. Linda muss noch mehrmals wiederholen, dass sie hier nicht hängen möchte, bis Heidi Klum doch das Go gibt, Linda aus der sendungsgemachten Situation zu befreien. Linda wird noch einmal in diese Situation gebracht. Man darf nicht vergessen, welch immenser Druck hier auf den jungen Frauen liegt. Sie wollen gefallen, sie wollen nicht scheitern. Sie haben Angst, aus der Sendung zu fliegen. Als Model-Rabenmutter Heidi Klum sie zum dritten Mal in die Höhe forcieren will, kann Linda ihr standhalten. Linda fliegt an diesem Tag aus der Sendung, weil sie sich nicht gefügt hat. Man muss sich hier fragen, was dadurch besonders jungen Zuseher:innen vorgelebt wird.

„Es ist nicht trivial, wenn man von einer Arena herunterschaut und jemanden eliminiert – im wahrsten Sinne des Wortes.“

Man muss jungen Menschen sagen, dass das nicht so sein muss.„Wenn Kinder so etwas sehen, hinterfragen sie es nicht, weil Erwachsene Recht haben. Man muss diesen Kindern sagen: ‚Wenn dir sowas passiert, dann musst du auf den Putz hauen und du musst schreien und unangenehm sein und herumfuchteln und weglaufen‘. Man muss ihnen unbedingt beibringen, dass man sich in nichts hineindrängen lassen muss, wovor man Angst hat“, bekräftigt Natalie Rodax in unserem Videocall und zieht in diesem Kontext einen spannenden Vergleich: Den Frauen würde hier der Handlungsmoment klein gemacht, da sie sich in einer Arena befänden, „das kann man mit den Hunger Games vergleichen. Auch wenn jede:r sagt, dass der Film eine Dystopie ist – ich finde, dass er keine Dystopie ist – Dystopie als Fiktion, die in der Zukunft spielt –,  ist, weil es scheinbar jetzt schon real ist. Bei den Hunger Games werden Leute ermordet und – das ist natürlich eine Überspitzung – aber das ist ganz was Ähnliches. Da wird Menschen Schmerz zugefügt, Karrieren werden beendet – oder zumindest gefühlt beendet. Es gab immer wieder Leute, die sich im Zwist mit Heidi Klum getrennt haben. Für diese war die Karriere de facto beendet. Es ist nicht trivial, wenn man von einer Arena herunterschaut und jemanden eliminiert – im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Macht wird kaum reflektiert und kaum jemand hinterfragt, warum Heidi Klum und der Maschinerie, die dahintersteht, diese Entscheidungsmacht gegeben wird“.

Eine der Teilnehmer:innen wird wegen ihres Walks von Klum und dem Fotografen Christian Anwander vor Millionen von Zuseher:innen ausgelacht. Und hier tritt ein noch größeres Macht- und Hierarchieverhältnis zutage: „Es lachen nicht nur die beiden, sondern zusätzlich lacht eine unbestimmte Masse. Da sitzt eine aufgebrezelte Frau im Wohlstand, eine florierende Frau, die in einem anderen district ist, weil sie the money hat und von dort aus urteilt und über jene, lacht die einen Selbstverwirklichungswunsch haben", so die Psychologin.

Was zum Nacktwalk in dieser Staffel noch hinzukommt, ist das Personality-Ranking. Es reicht nicht mehr, nur schön zu sein, die Teilnehmer:innen müssen zeigen, dass sie von allen gemocht werden. 14 Kandidat:innen müssen neben ihrer Performance auch ihre Personality gegenseitig bewerten und den Plätzen 1 bis 14 zuteilen. Dass es hier Verlierer:innen geben wird, ist evident. Dass es reale Gefühle verletzen wird, ist den Macher:innen dieser toxischen Sendung bewusst. Was Personality – abgesehen von einer leeren Kategorie – sein soll, wird nicht ersichtlich. Im Gespräch erklärt Natalie Rodax, dass es in der Differentiellen Psychologie zahlreiche Persönlichkeitsmodelle gibt, die auf höchst komplexen mathematischen Gebilden und empirischen Daten beruhen. Im Wonderland der parasozialen Interaktion ist Personality nicht mehr als eine leere Hülse. Für Rodax gelten Bewertungen, die auf Pseudo-Begriffen aufgebaut sind, als stark zu hinterfragen.

Dass sich GNTM Diversität auf die Fahnen schreibt, ist höchst problematisch. Das Sendungsformat war und ist nachwievor darauf ausgelegt, die Zerstörung und Verachtung des weiblichen Körpers zu propagieren. Das Format lebt von der Angst, nicht zu gefallen, etwas nicht zu schaffen. Zu minderwertig zu sein. In einer Zeit, in der die Schwere der Pandemie wie ein Damoklesschwert über der Welt schwebt und in der junge Menschen den psychischen Herausforderungen kaum mehr standhalten können, ist dieser gefakte Paradigmenwechsel ein gefährliches Zeichen. Aber auch abseits der Pandemie müssen wir noch stärker darüber reden, wie gefährlich diese Sendung für die Gesellschaft ist. Sie verkleidet sich als Bubblegum-Freizeitevent, der unsere internalisierten voyeuristischen Triebe stillt und ist in Wirklichkeit aber Grundstein für einen kollektiven Schock, von dem sich viele junge Menschen, die noch in der Entwicklung stecken, lange nicht erholen werden.