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© Moritz Wildberger und Armin Längle
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Digital und inklusiv

Sein Handy ist zwar auch nicht oldschool, sagt Daniel, ein iPhone der letzten Generation, aber sein Computer, der ist wirklich etwas Besonderes. Ein halbes Jahr hat er dafür gespart, die einzelnen Teile Monat für Monat gekauft. Immer dann, wenn er genug Geld zusammen hatte. Zuerst kaufte er sich ein Motherboard, dann den Prozessor, Grafikkarte, Gehäuse, Festplatte. Nach einem halben Jahr baute er die einzelnen Teile zum Gaming-PC zusammen. Wenn er etwas nicht verstand, suchte er sich Anleitungen im Internet. Muss er am nächsten Tag nicht zur Arbeit, spielt der 35-Jährige darauf manchmal bis vier Uhr nachts, am liebsten Call of Duty. Oder er schaut sich Let’s-Play-Videos auf YouTube an, sieht also Menschen dabei zu, wie sie digitale Kriege fechten, Aufgaben lösen, Autorennen fahren.

Daniel hat eine intellektuelle Behinderung. So digital wie er, erleben nur die wenigsten Menschen mit Behinderung ihren Alltag. Nur selten sind sie mitgemeint, wenn Digitalisierungspakete geschnürt, Online-Angebote beworben oder digitale Qualifizierungen ausgeschrieben werden. Wie groß das Problem ist, hat ein Team rund um Kurt Feldhofer, Mitarbeiter bei der Lebenshilfe Graz, erhoben. Er leitet das dortige Forschungsbüro Menschenrechte, in dem ein inklusives Team Themen recherchiert, die sie selbst betreffen: von politischer Teilhabe bis Barrierefreiheit.

„Menschen mit Behinderung sind zumindest teilweise immer noch davon abhängig, was ihr Umfeld will."

Für die Studie wurden 560 Menschen mit und ohne Behinderungen befragt. Das Ergebnis: Nur zwei Prozent der Menschen ohne, aber ganze 45 Prozent der Menschen mit Behinderungen gaben an, kein Internet zu nutzen. 17 Prozent von ihnen hatten überhaupt kein Endgerät zur Verfügung. Bei den Menschen ohne Behinderung trifft das auf niemanden zu. „Das sind schon Werte, die uns wachgerüttelt haben“, so Feldhofer. Neben sehr alten Menschen sind es vor allem Menschen mit Behinderung und unter ihnen vor allem jene mit Lernschwierigkeiten, die am ehesten den digitalen Anschluss verlieren könnten. Fragte man sie nach den Gründen für die Nichtnutzung, kamen Antworten von „Ich kenne mich nicht damit aus“ bis hin zu „Ich brauche es nicht“ und oft auch „Mein Umfeld möchte es nicht.“ Menschen mit Behinderung sind zumindest teilweise immer noch davon abhängig, was ihr Umfeld will. Der Mangel an digitaler Unabhängigkeit verstärkt dieses Problem zusätzlich. Denn wer bei der Digitalisierung nicht mithält, wird auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben. Alternativ können Menschen mit Behinderung in Werkstätten angestellt werden.

Daniels Interesse an Technik hat ihm zu seinem Job außerhalb einer Werkstätte verholfen. Er arbeitet bei der Lebenshilfe in Judenburg als Kundenbetreuer, nimmt die Wünsche von Kund:innen der Lebenshilfe auf, schreibt sie am Computer oder Tablet nieder und leitet sie weiter. Eine Betreuerin habe ihm ein paar Tricks gezeigt, erzählt er. Steuerung C, Steuerung V. Er lacht in ihre Richtung, seine aschblonden Haare fallen ihm in die Stirn. Aber das meiste habe er sich selbst beigebracht: „Ich finde das sehr wichtig, man kommt ja ohne nicht mehr weit.“ Die meisten seiner Kolleg:innen, sagt er, benutzen das Internet und technische Geräte selten.

Welche Auswirkungen der Ausschluss dieser Prozesse hat, zeigt auch eine weitere Studie des Forschungsbüros Menschenrechte: Ein Viertel der befragten Menschen mit Behinderung gaben an, nie wählen zu gehen. Bei der Bundespräsidentenwahl im Dezember 2016 lag die Wahlbeteiligung bei Menschen mit Behinderung deshalb bei rund 61 Prozent – im Vergleich zu rund 72 Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung. Der Grund? Wer keinen adäquaten Zugang zum Internet hat, kann sich oft auch nicht ausreichend informieren und verliert in vielen Bereichen Anschluss – so auch bei der politischen Teilhabe. Dabei wäre dies eine Win-win-Situation für beide Seiten, sagt Feldhofer. Die Politiker:innen können neue Wählergruppen erschließen, die Menschen mit Behinderung mit größerer Wahrscheinlichkeit ihre Rechte vertreten wissen.

Und noch etwas machte laut der Studie zur Nutzung digitaler Medien einen Unterschied: Wohnen die Betroffenen (noch) bei ihren Angehörigen, ist die digitale Teilhabe geringer. Aber auch in den Einrichtungen der Behindertenhilfe gibt es beim Zugang zu digitalen Geräten noch große Unterschiede: Von Werkstätten, in denen ein Computer für eine ganze Gruppe zur Verfügung steht, hin zu Teams, die regelmäßig mit und am Computer arbeiten. Das hat auch Auswirkungen darauf, ob sie überhaupt Chancen haben, aus diesen Strukturen herauszutreten (insofern sie das wollen), und etwa selbst auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Denn obwohl Menschen mit Behinderung rund 15 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, ist ihre Beschäftigungsquote weiterhin wesentlich niedriger als die der Gesamtbevölkerung. In Österreich sind etwa nur knapp 58 Prozent der Menschen mit Behinderung erwerbstätig. Rund 20.000 Menschen arbeiten in Werkstätten, so ein Bericht der Volksanwaltschaft. Sie kuvertieren dort Briefe, sortieren Gemüse oder bedrucken Dinge. So wie viele Kolleg:innen von Daniel. Für ihren Beruf brauchen sie oft keine Technik und auch zuhause haben viele kaum Zugang zum Internet, erzählt er. Außerdem hätten die Betreuer:innen an normalen Tagen keine Zeit, ihren Kund:innen – Menschen mit Behinderungen wie ihm –, digitale Geräte zu erklären. Es sei ja auch nicht ihr Auftrag, sagt er. Und für die Digitalisierung gibt es kaum Fördergelder.

„Die Rechte der Menschen mit Behinderung sind andere. Sie haben unter anderem keinen Anspruch auf Lohn, Sozialversicherung, Urlaub, Krankenstand oder Pension.“

Gerade für Menschen mit intellektueller Behinderung sind die Hürden, selbstständig mit der Digitalisierung Schritt zu halten, deshalb groß. Wenige Websites sind in Leichter Sprache Die Leichte Sprache soll Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen über eine geringe Kompetenz in der deutschen Sprache verfügen, das Verstehen von Texten erleichtern. Sie dient damit auch der Barrierefreiheit. verfügbar, sagt Daniel, viele können mit der Technologie noch nicht umgehen. „Bei Barrierefreiheit denkt der Großteil der Menschen immer noch an eine Rampe“, sagt auch Kurt Feldhofer. Als Wünsche zur Verbesserung nannten die Befragten Haushaltsroboter, verbesserte Sprachsteuerung sowie Smartphone-Betriebssysteme in Leichter Sprache.

Daniel sagt: „Viele haben Angst, im Umgang mit dem Internet Fehler zu machen und es gibt den finanziellen Aspekt: Ein iPhone kostet ja 500 Euro.” Menschen mit Behinderung, die in einer Werkstätte angestellt sind, bekommen für ihre Arbeit keinen Lohn, sondern nur ein Taschengeld. Das ist unterschiedlich hoch, meistens weniger als 100 Euro im Monat, so heißt es im Bericht der Volksanwaltschaft. Manche zahlen freiwillig mehr – bis zu 400 Euro. Die Rechte der Menschen mit Behinderung sind andere. Sie haben unter anderem keinen Anspruch auf Lohn, Sozialversicherung, Urlaub, Krankenstand, oder Pension. Sie sind dadurch in allen diesen Bereichen im Vergleich zu anderen Menschen schlechter gestellt, so der Bericht. Werkstätten stehen deswegen in der Kritik. In Deutschland fordert die Petition #Stelltunsein den Mindestlohn für dort angestellte Menschen – denn im Moment sind es unter zwei Euro die Stunde, die man in Werkstätten verdient. Auch Daniel sparte monatelang, um sich ein Handy und einen Computer kaufen zu können, sein Tablet hat ihm die Lebenshilfe geschenkt. Gelernt, damit umzugehen hat er vor allem deshalb, weil er neugierig ist, sagt er. Und weil er die Dringlichkeit sieht: „In der Corona-Krise hat man eh gemerkt, dass wir ohne Digitalisierung nicht mehr auskommen.“

Das war in vielerlei Hinsicht ein Vorteil, erzählt auch Manuela Jessner, die Leiterin der Abteilung für Arbeitsprojekte der Lebenshilfe Graz. „Wir hatten vor Corona eigentlich das Gefühl, wir hätten hier noch sehr viel zu tun.“ Doch in der Not war der Umstieg auf digitale Hilfsmittel plötzlich unumgänglich – und auch erfolgreich. „Corona hat uns in die Karten gespielt. Es ist gelungen, mit unseren Kund:innen zuerst telefonisch, dann durch Videotelefonie in Kontakt zu bleiben“, sagt sie. Ihre Aufgabe ist es, Menschen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten. Während der Pandemie, wurden viele Aufgaben dafür von zuhause erledigt, indem die Teilnehmenden aus der Ferne gecoacht wurden.

„Man kann nicht von einem selbstbestimmten Leben und von Teilhabe an der Gesellschaft an sich sprechen, ohne auch gleichzeitig die sich ständig wandelnde digitale Welt für Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen.“

Mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf den Arbeitsmarkt, beschäftigte sich 2019 auch das Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz. In einem Bericht heißt es, dass neue Technologien diesen Unterschied auf dem Arbeitsmarkt sowohl vergrößern als auch verkleinern könnten. Die positiven Aspekte? Aufenthaltsort und Mobilität werden weniger wichtig, Hilfstechnologien können manche Einschränkungen ausgleichen. Dass die Situation nicht schwarz und weiß ist, wurde auch während der Pandemie sichtbar. Anders als Jessners Kund:innen waren manche Menschen mit Behinderung während der Pandemie noch isolierter als sonst. Josef H., der alleine in einer teilbetreuten Wohnung lebt, hatte nur während der Arbeit in einer Werkstätte Zugang zu einem Computer. Anderen Menschen mit Behinderung, die aufgrund von Erkrankungen generell unter Quarantäne stehen, spielte die Pandemie wiederum in die Karten: Viele Sachen, die nun online stattfanden, waren plötzlich für sie zugänglich. Digitalisierung schließt manche ein und andere aus.

Einsatz von Technologien, der freie Zugang zu Information, sowie gleichberechtigte Teilhabe sind alles Prinzipien, die auch im Rahmen der UN-Behindertenkonvention beachtet werden müssen, die Österreich im Jahr 2008 ratifiziert hat. Der Begriff der digitalen Teilhabe kommt darin nicht vor. Man kann nicht von einem selbstbestimmten Leben und von Teilhabe an der Gesellschaft an sich sprechen, ohne auch gleichzeitig die sich ständig wandelnde digitale Welt für Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen. Was also tun?

Walpurga Fröhlich, Geschäftsführerin von atempo, einem Unternehmen, das digitale Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen entwickelt, arbeitet an einer Lösung. Einer Software beispielsweise, die Websites in Leichte Sprache übersetzt. Das Ziel sei eine App, die in verschiedene Schwierigkeitsstufen übersetzt – je nach Wissensstand der Lesenden. Sie sagt: „Digitale Inklusion soll ein Buffet für alle sein, an dem aber jede Person einen für sich passenden Zugang hat”. Sie sieht das Umfeld als größte Hürde bei der Digitalisierung für Menschen mit Behinderungen: „Viele haben keine Fantasie, wofür Menschen mit Lernschwierigkeiten digitale Angebote nutzen könnten“. Betreuer:innen und Angehörige müssten verstehen, so Fröhlich, dass man Menschen, denen man heute keine Zugang schaffe, langfristig ausschließt und dass Smartphones zur Grundausstattung eines jeden Menschen gehören.

„Teilweise gehören sie einer anderen Generation an. Wir haben Teilnehmer, die einfachste Apps nicht runterladen können, weil Angehörige sie blockiert haben.“

Auch die Lebenshilfe arbeitet an Lösungen: In Manuela Jessners Büro werden etwa sogenannte digi coaches ausgebildet, die andere beim Bedienen der Geräte unterstützen können. Das bedeutet auch, dass in der Ausbildung von Menschen, die im Behindertenbereich arbeiten wollen, vermehrt die Vermittlung von digitalen Fähigkeiten verankert wird. Wie Fröhlich ist auch sie der Meinung, dass Angehörige der Menschen mit Behinderungen sensibilisiert werden müssen. In der Erfahrung von Feldhofer und Jessner sind diese oft überängstlich: „Teilweise gehören sie einer anderen Generation an. Wir haben Teilnehmer, die einfachste Apps nicht runterladen können, weil Angehörige sie blockiert haben“, erzählt Manuela Jessner. Und das sei kein Ziel zur Teilhabe: „Solange Digitalisierung für einzelne Personen nicht möglich ist, wird kein normales Leben möglich sein – und das in zunehmendem Ausmaß”, so Jessner.

Nichtsdestotrotz gibt es auch viele positive Aspekte. In den letzten Monaten haben sich zwei Kund:innen der Lebenshilfe ein Smartphone angeschafft, berichtet etwa Kurt Feldhofer: „Sie kommunizieren mir immer wieder, was sie dadurch an Selbstbestimmung gewonnen haben. Das geht von Sachen wie selber einen Termin organisieren bis hin online Konzertkarten zu kaufen.” Dinge, die für viele selbstverständlich sind, aber für Menschen mit Behinderung weiterhin oft ein großes Hindernis darstellen. „Da eröffnen sich neue Horizonte und die Welt wird einfach ein Stückerl großer.“

Wenn Daniel viel Geld hätte, sagt er, würde er eine Stiftung gründen: „Damit jeder Mensch mit Behinderung technische Geräte hätte und eine persönliche Assistenz, die ihm hilft und Zeit hat, zu erklären.” Wie er das Geld dafür verdienen möchte? “Die erste Million mit Let’s-Play-Videos auf YouTube.”


Über die Redaktion andererseits

Die Redaktion andererseits steht für Inklusion im Journalismus. Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten gemeinsam an journalistischen Beiträgen: www.andererseits.org

Transparenz: Für diesen Artikel hat sich die Autorin Luise Jäger gemeinsam mit den anderen zwei Autorinnen die Fragen für die Interviews überlegt, ein Interview gemeinsam mit Lisa Kreutzer geführt, und finales Feedback gegeben.

Für die Grafik hat Moritz Wildberger eine Zeichnung von Armin Längle collagiert.