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© Samantha Tobisch
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Die Schule der Zukunft muss ihr Menschenbild ändern

Die COVID-19-Krise hat die für viele lange überfällige Digitalisierung der Schulen forciert. Doch wie werden digitale Technologien die Schule in den nächsten Jahren prägen und welche Änderungen braucht es, um die Schule zukunftsfähig zu machen? Schülerin Shahla A. und Medienpädagogin Anu Pöyskö im Gespräch.


period.: Shahla, du bist Schülerin an einer Mittelschule in Wien. Kannst du erzählen, wie Handys und digitale Technologien gerade in deiner Schule verwendet werden?

Shahla: In der Schule haben wir das Handy nur verwendet, um beispielsweise für ein Referat zu recherchieren, oder die Bedeutung von einem Wort nachzuschauen. Corona war ein richtiger Schock, weil jetzt fast das ganze Lernen am Handy passiert. Vor Corona war mein Handy Freizeit. Jetzt bin ich beinahe die ganze Zeit am Handy und habe gar keine Lust mehr, es in meiner Freizeit zu verwenden.

Anu, was bedeuten digitale Tools für dich als Medienpädagogin?

Anu: Der Zugang von zu vielen Schulen in der Vergangenheit war “Weg mit dem Smartphone”, anstatt man die Relevanz für den Unterricht gesehen hätte. Wir müssen in der Zukunft lernen, große Komplexität auszuhalten. Wir müssen lernen, es auszuhalten, über sehr viele Dinge nicht die letzte Wahrheit zu wissen und mit einem forschenden Blick in die Welt zu schauen. Je mehr man das thematisiert, desto besser ist man auf eine komplexe Welt vorbereitet.

Man kann zum Beispiel – wie Shahla erzählt hat – prima mit dem Handy recherchieren. Wir reden viel zu viel über fake news – als gäbe es true news und das stimmt ja nicht. Da draußen finden wir viele Graustufen von unterschiedlich vertrauenswürdigen Quellen. Viel spannender als ein Schulbuch wäre es, zu einem Thema nachzusehen, was man dazu online findet und was vertrauenswürdig erscheint.

Wie wird sich das Zusammenspiel zwischen Schule und dem Internet als Werkzeug nach COVID-19 verändern?

Shahla: Ich denke, Zoom, Classroom und Google Calender werden bleiben und uns in der Zukunft noch sehr nützlich sein.

Anu: Ich hoffe, die Schule wird digitaler. Aber so, dass das Digitale nicht nur ein Hilfskonstrukt ist. Natürlich sollen Kinder weiter physisch in die Schule gehen. Shahlas Klasse könnte beispielsweise eine Schwesterklasse in Indien haben, mit der sie regelmäßig arbeitet. Dabei würden sie Englisch lernen, aber sie würden auch mit einer Gruppe an Gleichaltrigen zu Themen arbeiten, die eine ganz andere Perspektive haben.

Ihr wünscht euch also beide, dass man die Chancen von digitalen Technologien mehr nützt. Welche neuen Schulfächer würde es dazu brauchen?

Anu: Ich bin ja ein bisschen auf Kriegsfuß mit den Fächern, weil sie die Welt in Schubladen teilen, die so nicht existieren. Es gibt einen anderen Zugang: phänomenorientiertes Lernen. Man nimmt dabei eher ein Thema auf – zum Beispiel COVID-19. Wenn man sich damit auseinandersetzt, macht man themenbezogene Mathematik; Biologie, weil man sich mit Viren auseinandersetzt, aber auch Geschichte, politische Bildung, Wirtschaft, Geographie. Ich glaube, es macht mehr Sinn, sich die Welt über Themen und Phänomene statt über einzelne Fächer anzueignen.

Ich glaube, die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Die Roboter können immer mehr, die künstliche Intelligenz wird immer cleverer und was bleibt für die Menschen? Was müssen wir zukünftig können? Das Zwischenmenschliche, die Soziale und Emotionale Intelligenz, sowie Kreativität werden an Bedeutung gewinnen und das sind, wenn man so will, die Fächer, in die ich investieren würde.

Grafik: Samantha Tobisch

Shahla, sind beispielsweise soziale Kompetenz und Kreativität gerade aktuelle Themen bei euch?

Shala: Nicht ganz. Aber wir hatten ein Fach namens „Projekt und Präsentation“. Dieses Fach hatten wir leider nur zwei Jahre, dabei gibt es tausend Themen auf der Welt, die wir noch nicht erforscht haben. Ich hätte dieses Fach gerne wieder und es sollte an allen Schulen umgesetzt werden. Es hat uns sehr Spaß gemacht, zu einem Thema zu recherchieren, es zu präsentieren und im Team zu arbeiten.

Anu: Ich finde es sehr fein, mit wie viel Begeisterung du von diesem Projekt sprichst. Es hat deine Neugier geweckt und das ist etwas sehr Wertvolles. Kleine Kinder haben das ja total, diesen irren Antrieb, sie stellen hunderttausend Fragen. Wir hatten leider Jahrhunderte lang ein Schulsystem, das diese Neugier bei vielen Kindern kaputt gemacht hat. Arbeitsformen, die uns motivieren, sind deshalb sehr wichtig. Schule schaut viel zu viel auf einen standardisierten Fundus an Wissen, den jeder draufhaben sollte. Zusammenhänge verstehen, diese Momente, wo wir das Gefühl haben, „das habe ich jetzt wirklich verstanden“ und sich Themen zu eigen machen –, darum muss es gehen.

In Zukunft wird es also immer wichtiger, Komplexität verarbeiten zu können und kritisch zu denken. Außerdem geht es auch darum, welche Fähigkeiten wir in Zukunft brauchen. Was bedeutet das zum Beispiel für Berufsschulen wie die HTL? Wie werden sich die verändern?

Anu: Es gibt diese 21st century skills: „creativity, collaboration, communication.“ In den USA ist das Modell bereits in der Bildungspolitik verankert. Im deutschsprachigen Raum hat es nach einem Vortrag auf der Re:publica 2013 an Bekanntheit gewonnen. Das sind die wichtigen Fähigkeiten der Zukunft. Ich denke, es wird genug Berufe geben, aber ob es genug Lohnarbeit geben wird, ist eine andere Frage. Es braucht ganz viel Kreativität, um zu überlegen: „Wie organisieren wir die Gesellschaft neu, so dass ein menschenwürdiges Leben und eine faire Aufteilung möglich sind?“. Jede Erfinderwerkstatt, jede Teamarbeit, jedes Setting, in dem wir etwas neues Schaffen, ist die Art von Lernen, die wir brauchen.

Auch das Umgehen mit Technik ist dabei wichtig. Wir brauchen viel mehr Leute, die die Sprache Code sprechen und computational thinking verstehen. Also wie Algorithmen funktionieren, damit wir miteinander bewusst die digitalen und technologischen Rahmenbedingungen gestalten können. Das ist wichtig, gerade in Bezug auf die HTL. Technisches Grundverständnis wird enorm wichtig sein. Das eigne ich mir aber am besten an, indem ich mit der Technologie spiele.

Shahla: Ich finde auch, dass Teamarbeit viel mehr gelehrt werden sollte. Wer wird denn alleine sein, wenn er erwachsen ist? Wir werden entweder in einer Firma arbeiten oder im Krankenhaus. Wir sind ja in einer Gesellschaft und wir werden immer in Teams sein.

Ich würde die Volksschulzeit für Einzelarbeit nützen, damit die Kinder lernen, alleine zu arbeiten, selbstbewusster werden und lernen, sich auf sich selbst zu verlassen. In der Mittelschulzeit oder im Gymnasium sollten die Kinder lernen, im Team zu arbeiten, weil das mehr Spaß macht. Und wenn es mehr Spaß macht, dann verstehst du es besser und wenn du es besser verstehst, dann musst du nicht so viel lernen. Es gibt viele, denen die Schule gerade keinen Spaß macht.

Grafik: Samantha Tobisch

Was würdest du jetzt gerade ändern, damit es mehr Spaß macht?

Shahla: Man muss beispielsweise lernen, wie man sich motiviert. Es gibt an unserer Schule das Fach „Lerncoaching“, das an allen Schulen unterrichtet werden sollte. Vor allem auch für Leute, die neu nach Österreich kommen. Ich bin auch erst sechs Jahre in Österreich und ich wusste gar nicht, wie die Schule hier ist. Da hat mir „Lerncoaching“ sehr geholfen, ich habe viel probiert und meinen Lerntyp gefunden. Alleine findet man den sehr schwer. Wenn man jugendlich ist, braucht man schon Hilfe.

Ich habe herausgefunden, dass ich am besten lerne, wenn ich mir ruhige Musik aufdrehe. Aber es muss mir unbekannte Musik sein, denn wenn ich sie kenne, dann will ich immer mitsingen. Ich habe auch meinen motivierenden Satz gefunden: „Wenn ich das nicht mache, dann habe ich keine Freizeit.“

Anu: Das, was du gerade erzählt hat, finde ich sehr wichtig. Schule soll uns auch beibringen, wie man lernt und Möglichkeiten geben herauszufinden, was man braucht. Da sind wir alle unterschiedlich und wir müssen lernen, das zu spüren. Wenn die Zeit dafür gegeben wird, dann wird unterstrichen, dass Lernen genauso wichtig ist wie ein Inhalt. Das sind Strukturen, die behältst du dein Leben lang.

Es bräuchte also in der Schule der Zukunft mehr Orte, wo Kinder und Jugendliche sich ausprobieren können?

Anu: Ja, die Kinder sollen mehr über sich und ihre Stärken herausfinden. Schule könnte viel, viel individueller sein und viel mehr mit den Stärken der individuellen Schüler und Schülerinnen arbeiten. Viele werden mit Dingen gequält, die ihnen nicht liegen. Sollte man etwas nicht mögen, muss man das auch einmal nicht lernen. Dass jeder den gleichen Bildungskanon beherrschen muss, finde ich veraltet. Es geht darum: Was ist mein großartiger Beitrag zu unserer Gesellschaft der Zukunft, was kann ich besonders gut?

Was würdet ihr als Erstes verändern, damit sich die Schule zum Positiven entwickelt?

Anu: Meine Schule würde später beginnen. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass 08:00 Uhr oder davor zu früh für Jugendliche ist. Ich würde den Fächerkanon auflösen und in kleineren Gruppen lernen. Außerdem würde ich eine andere Rolle für die Pädagog:innen schaffen. Franz Josef Röll spricht von einer Pädagogik der Navigation, das kommt dem sehr nah, was ich mir wünsche: Pädagog:innen als Unterstützung für den Lernprozess.

Sozialer Kompetenz und einem guten Miteinander würde ich ebenfalls viel mehr Raum geben. Ich würde die Schule mehr in Richtung Gesellschaft öffnen. Zum Beispiel könnten sich Schüler:innen während der Unterrichtszeit ehrenamtlich engagieren. Damit sie erfahren, dass jeder etwas in der Gesellschaft bewirken kann.

Shahla: Ich würde „Projekt“, „Präsentation“ und „Lerncoaching“ für alle Schulen einführen. Vor Corona hatten wir auch die Lerngruppen, was ich sehr mochte. Ich habe gelernt, mit Menschen zu arbeiten und zu lernen.

Ich habe Angst vor den Schularbeiten. Das ist wirklich nicht schön und das will ich ändern.

Was wären die wichtigsten Eigenschaften der Schule der Zukunft?

Anu: Es wäre eine Schule, in die Jugendliche gerne gehen und in der sie etwas über ihre Stärken erfahren. Bestätigung würde nicht mehr unbedingt über Noten kommen, sondern eher über Rückmeldungen von den Lehrkräften, Gleichaltrigen und Menschen, die in die Schule kommen und bestätigen: Das, was ihr macht ist gut und wichtig.

Ich würde mir auch wünschen, dass sich die Schule architektonisch ändert. Es sollte verschiedene Arbeitsplätze für kleinere Gruppen geben, nicht diese riesigen jugendlichen Aufbewahrungsräume. Das wäre flexibler, einfacher und man würde mehr Menschen von außen einladen. Es sollte auch mehr kreative Räume, mehr Werkstätten, Kunsträume, Bühnen, Studios, einen Garten, begrünte Wände und Dächer geben. Alles, was wachsen kann, wächst und Tiere sollte es auch geben.

Shahla: Was mir am wichtigsten ist: Ich habe Angst vor den Schularbeiten. Das ist wirklich nicht schön und das will ich ändern. Man könnte zum Beispiel Kinder in Tischgruppen Schularbeiten schreiben lassen. Dann müsste man nicht so Angst haben und man würde es gerne machen und gerne gute Noten schreiben und viel dabei lernen. In meiner Schule der Zukunft würden Schularbeiten Spaß machen.

Anu: Was steckt da für ein Menschenbild dahinter? Dass wir glauben, Kinder lernen nur, wenn sie unter Druck sind, wenn sie Angst haben. Das finde ich einfach krank.

Also muss die Schule letztlich ihr Menschenbild ändern?

Anu: Ja, denn die Schule hat gerade ein extrem negatives Menschenbild, darauf fußt sie. Ein Bild, das besagt, dass junge Menschen nur etwas tun, wenn sie dazu gezwungen werden. Das stelle ich sehr in Frage.