Diesem Text ging ein Glossar voraus, auf das wir bei den Begriffen, die näher ausgeführt werden sollten, verlinken.
Mit der U-Bahn oder mit dem Uber zum Tinder-Date? Abendessen beim Italiener oder Pizza vom Lieferservice auf der Couch? Selbstversorgungsurlaub im Airbnb oder doch lieber ein Hotel mit Zimmerservice? Plattformen stellen nicht nur die Generation Smartphone ständig vor die Qual der Wahl, sie bringen auch die Stadt und ihre Architektur in Entscheidungszwang. Die Kuratoren des diesjährigen österreichischen Pavillons der Architektur-Biennale in Venedig, Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer, wissen das ebenfalls. Ihr Projekt PLATFORM AUSTRIA beschäftigt sich mit dem sogenannten Plattform-Urbanismus, einem Phänomen, das – angetrieben von Digitalisierung und Pandemie – bereits tief in unseren Alltag eingedrungen ist, wie Mörtenböck und Mooshammer in ihrem Opening Statement erklären:
„...zuhause bleiben zu müssen hat mit sich gebracht, dass wir uns rasch an [digitale] Plattformen gewöhnen mussten, um unseren Alltag weiterhin verrichten zu können. In der Folge haben wir gesehen, wie Plattformen unsere Interaktionen komplett verändert haben – die Art, wie wir arbeiten, lernen, einkaufen, uns unterhalten und uns treffen. Wo auch immer wir in der Welt sind: Wie wir Plattformen benützen, hat nicht nur einen gewaltigen Einfluss auf uns Menschen, es verändert auch unsere Städte.“
Viele Aktivitäten, denen wir bislang im städtischen Raum nachgegangen sind, verlagern sich in die virtuelle Welt. Dadurch verliert die gebaute Stadt, die bislang zur Ausführung öffentlicher und privater Aufgaben diente, ihre Rolle als beste Organisationsstruktur der Gesellschaft. Die funktionale Trennung von Wohnen, Arbeit und Freizeit, die seit der Moderne die Stadt prägt, wird aufgelöst. Die Stadt wird effizienter und fortschrittlicher – sie wird zur Smart City. Das verändert sowohl das Verhalten in der Stadt als auch die Architektur, da Plattformen in ihren kommunikativen, logistischen und operativen Potenzialen neue Ästhetiken mit sich bringen, so Mörtenböck und Mooshammer.
Wie sieht diese Verwandlung konkret aus? Emilia Bruck gewährt uns einen Einblick in diese Fragestellung. Sie forscht und lehrt am future.lab Research Center sowie im Forschungsbereich Örtliche Raumplanung auf der Technischen Universität Wien. Ihre Forschung richtet sich auf den zunehmenden Einsatz digitaler Technologien in Städten und die dadurch veränderten Raumwahrnehmungen, -produktionen und -nutzungen.
Sharing ist nicht immer caring
Plattform-Urbanismus, so Emilia Bruck, ist die räumliche Auswirkung von Plattform-Ökonomie bzw. Plattform-Kapitalismus: Mit ihm sind neue Akteur:innen – beispielsweise Plattformen wie Uber oder Airbnb – disruptiv in den Prozess des Stadt-Machens eingetreten:
„For these ‚disruptive’ platforms, their strategy for domination is fought on the urban front: surge into cities, spread like wildfire, subvert any regulation, supplant all competition, and secure their position as an aspiring monopoly.“ Zitat von Jathan Sadowski aus: „Who owns the future city? Phases of technological urbanism and shifts in sovereignty“
Während man reine Marktplätze wie Amazon als Plattformen der ersten Generation bezeichnet, gehören Plattformen der Sharing-Ökonomie zur zweiten Generation. Das Wort „Sharing” klinge zwar nachhaltig, so Bruck, man dürfe aber nicht vergessen, dass Kommerzialisierung und Profitgewinnung immer im Vordergrund stehen. Deshalb gilt es, die jeweilige Plattform genau und kritisch zu betrachten. Das Ziel von Plattformen sei es nicht, ein bestehendes Ungleichgewicht auszugleichen, sondern neues Marktpotenzial zu schaffen. Wirft man beispielsweise einen genaueren Blick auf Uber, so ist diese Plattform keine reine Dienstleistung, sondern eine Vernetzung: Das Unternehmen besitzt in der Regel keine eigenen Taxis und hat auch keine Fahrer:innen angestellt – es handelt sich um Privatpersonen. Das erlaubt ihnen, einen günstigeren Preis anzubieten als Taxiunternehmen. Österreich stellt hier aber neuerdings eine Ausnahme dar: Fahrer:innen dürfen keine Privatfahrzeuge nutzen, sondern müssen bei einem lizenzierten Unternehmen angestellt sein.
Plattformen wie Uber hatten und haben als dominante Wirtschaftsakteurinnen einen so großen Einfluss auf die Art und Weise, wie Geschäftsmodelle entwickelt werden, dass es dafür mittlerweile ein eigenes Wort gibt: „Uberization”.
Seit 2016 wird der sogenannte Plattform-Kooperativismus Nach Trebor Scholz
als mögliche Reaktion auf ausbeuterische Verhältnisse in der Sharing-Ökonomie besprochen. Der Aufruf „Socialize Uber“, gestartet von Mike Konczal, denkt darüber nach, wie es wäre, wenn sich Unternehmen wie Uber als Genossenschaft organisieren würden, um sich solidarischer zu gestalten. In der Praxis hat sich dieser Plattform-Kooperativismus jedoch noch kaum durchsetzen können.
Von grünen E-Scootern und orangen Fahrradkurieren
Carsharing-Plattformen wie Share Now, E-Scooter-Anbieter wie Lime und Bird oder Lieferservices wie Mjam und Lieferando prägen das Stadtbild mehr und mehr – damit sind aber nicht nur grüne E-Scooter, über die man täglich stolpert oder orange gekleidete Fahrradkuriere, die um gefühlt jede Ecke biegen, gemeint. Diese Mobilitätsangebote verändern die Art, wie wir uns in der Stadt bewegen (siehe auch Smart Mobility).
In Berlin ist seit Mai eine hitzige Diskussion über Parkpflicht und Parkflächen für E-Scooter, Carsharing und Leihfahrräder entstanden: Die Stadt will diese über das Berliner Straßengesetz stärker regulieren, die Anbieter wehren sich. Unklar ist: Sind E-Scooter und Co eine Sondernutzung öffentlicher Verkehrsflächen oder ein Gemeingebrauch? Gemeingebrauch meint eine Nutzung zum Zwecke des Verkehrs (also zur Fortbewegung), während alles, was darüber hinausgeht, eine erlaubnispflichtige Sondernutzung ist, die mehr Regulierungen ermöglichen würde. Bis heute ist diese Frage in Deutschland nicht einheitlich geklärt.
„Aufgrund von Amazon, Zalando und Co gibt es einen enorm steigenden Warenverkehr, auf den das städtische System reagieren muss.“
Emilia Bruck betont, dass der öffentliche Mobilitätssektor reagieren muss, um mit diesen Sharing-Plattformen mithalten zu können. Wien sei hier mit dem Projekt „Upstream Mobility” ein Vorreiter: Dabei handelt es sich um eine „kommunale Mobilitätsplattform”, die Mobilitätsdienstleister auf einer Plattform vernetzt und digitale Infrastruktur zur Verkehrssteuerung im öffentlichen Interesse bietet (siehe Mobility-as-service und City-as-a-service).
Aber nicht nur Mobilität, auch der Online-Handel, der Warenverkehr und die Logistik werden plattformisiert. Das Prinzip der Sharing-Ökonomie wird für Lagerflächen, Transportkapazitäten, LKW- und Frachtflächen oder Personal angewendet. Aufgrund von Amazon, Zalando und Co gibt es einen enorm steigenden Warenverkehr, auf den das städtische System reagieren muss. Das heißt konkret: Mehr und mehr kleine Paketstationen und Lagerzentren (Micro Hubs), mehr Fahrradkuriere sowie Lastenräder und nach und nach auch selbstfahrende Lieferdienste und paketbringende Roboter.
Eine andere Frage umkreist die Sorge, wie sich ein drohender Leerstand in Städten durch Online-Stores verhindern lässt. Die Landstraßer Hauptstraße, die Mariahilfer Straße, der Erste Bezirk: All diese Wiener Orte sind stark gewerblich geprägt und vom Einzelhandel dominiert. Nutzungsmischung und Hybridisierung sind laut Bruck Versuche einer Antwort: Der Handel soll an diesen Orten bestehen bleiben, aber in einem kleineren Ausmaß und kombiniert mit mehr Gastro- und Kulturangeboten. Der Einkauf wird zu einem Erlebnis, das ein Online-Shop alleine nicht bieten kann (siehe Eventisierung).
(Urban) Big Data is watching you: Das Sammeln von Macht
Emilia Bruck erklärt, dass die Schnittstelle zwischen Standentwicklung und digitaler Infrastruktur zurück auf die frühen 2000er-Jahre geht, in denen Großkonzerne wie IBM und Microsoft Städte als neue Konsumenten identifizierten, denen man Services und Dienstleistungen verkaufen kann. Der damals neue Ansatz: Wenn möglichst viele Daten über städtische Prozesse wie Abwasser, Energiekreisläufe oder Mobilität erhoben werden, kann man sie analysieren, integrieren, kontrollieren und sogar prognostisch arbeiten.
Ein besonderes Augenmerkmal legt Bruck auf das Thema der Datengenerierung, ihrer Verarbeitung, Analyse, Nutzung und Monetarisierung – ein Merkmal der dritten und aktuellen Generation der Plattformen (wir befinden uns an der Schwelle zur vierten Generation), deren Geschäftsmodelle sich ständig ändern und rasch wachsen, nicht zuletzt durch die große Menge an Interaktionsdaten zwischen Plattformbetreiber:innen, Anbietern und Kund:innen: Big Data.
Statt planvoll errichteter Gebäude regulieren nun Datenverarbeitungsprozesse die Formen des Zugangs, der Teilhabe, der Rollendefinition und der Priviliegienzuteilung. Wenn das Fundament der Nachbarschaft das Internet und digitale Vernetzung ist, dann stellen sich ungeklärte Fragen wie: Wem gehören die vielen Daten, die im öffentlichen Raum erhoben werden? Wer verwaltet sie, wo werden sie gelagert, wem kommen sie zugute?
Forscherin und Urban Digital Strategist Sarah Barns beschreibt Daten als ein Medium des Kampfes und der Verhandlung, das von Plattformen genutzt wird, um die Regelungskompetenz staatlicher Institutionen zu untergraben, indem sie sowohl den externen Zugriff begrenzen als auch die staatliche Datenkompetenz überschreiten (sn:3).
Plattformen versus Staat – ein Machtkampf, der auf dem Rücken der Stadtbewohner:innen ausgetragen wird? Die permanente digitale Datenerfassung führt einerseits zu erwünschten und unerwünschten Überwachungs- und Kontrolleffekten. Sich der unerwünschten Kontrolle zu entziehen, wird zunehmend schwieriger. Durch die zunehmende Datensouveränität der städtischen Bewohner: innen kann aber auch ihre Teilhabe erleichtert werden. Ein Beispiel: Das Smartphone kann partizipative (Stadt-)Planungsprozesse ermöglichen, da Bewohner:innen im Rahmen von Monitoringprozessen ihre Beobachtungen beispielsweise im geobasierten Social Media dokumentieren; mit dieser Vielfalt an Perspektiven können sie auf ein bereits definiertes Thema reagieren oder auch neue Themen (und Räume) definieren Bauriedl, Sybille / Strüver, Anke (Hg.): Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten. Aber wie steht es tatsächlich um die Partizipation der Stadtbewohner:innen? Wer hat wie viel Mitspracherecht?
Digitalisierung ist Differenzierung – oder?
Bruck stellt sozioökonomische Fragen, die zur Differenzierung auffordern: In welchen Räumen sind die Auswirkungen von Digitalisierungsprozessen stärker oder schwächer?
„Stadtraum ist stark lokal differenziert, von Politik geprägt, chaotisch, vielfältig. Im technologischen Verständnis ist er aber flach und generisch, das widerspricht meinem Verständnis von Urbanität. Die Stadt ist keine Datenplattform und mein Blick auf eine technologiegetriebene Stadtentwicklung ein kritischer.” – Emilia Bruck
Datensätze mit Raum zusammenzuführen vermittelt eine vermeintliche Objektivität; aber weder Technologien noch Algorithmen sind sozial neutral. Die digitalisierte und plattformisierte Stadt ist nicht für alle gleich zugänglich. Nicht jede:r verfügt über dieselben Ressourcen und Kapazitäten. Digitalisierung heißt deshalb immer auch Prekarisierung (siehe Digital Divide, Multimodal Divide, Gendered Multimodal Divide): Plattformen können also auch als Blueprints oder gar Verstärker bestehender sozialer Ungleichheiten betrachtet werden. Eine dieser Ungleichheiten zeigt Rabea Berfelde auf, die sich mit dem Reproduktionsmodell von Airbnb auseinandersetzt und dazu Berliner Airbnb-Hosts befragt hat. Das ungenutzte Zimmer ist eine Art Vermögen, das als Versicherung in unsicheren Lebenslagen fungiert – aber nur für diejenigen, so Berfelde, die auf eine Wohnung zurückgreifen können und dort über ungenutzten Raum verfügen:
„Tatsächlich stellt Airbnb sich selbst als eine technologiegestützte und individualisierte Lösung für Prerkarität dar. (…) Das legt nahe, dass das Reproduktionsmodell von Airbnb im Berliner Kontext nur bestimmte soziale Gruppen anspricht. Für alle anderen verschärft die Plattform Gentrifizierungsprozesse und somit Prekarität und sozial-räumliche Ungleichheit.“ – Berfelde Berfelde, Rabea: Das Reproduktionsmodell von Airbnb: Wohnraum „teilen“ im Kontext krisenhafter sozial-reproduktiver Verrhältnisse.
Ein Beispiel aus der Mobilität: Die internationale Forschung zeigt, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verkehrsmittelwahl gibt und dass diese mit einer Reihe von strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verbunden sind: Gender Power Gap, geschlechtsspezifisches Lohngefälle, unbezahlte Pflegearbeit. Frauen gehen beispielsweise mehr zu Fuß, nutzen Bus und U-Bahn öfter. Frauen sind öfter multimodal unterwegs und benötigen flexible, sichere und pünktliche Angebote, weil sie in höherem Maße als Männer unbezahlte Betreuungsarbeit im Haushalt leisten. Diese strukturellen Unterschiede beeinflussen nicht nur die Wahl des Verkehrsmittels und die Reisezwecke, sie wirken sich auch auf die Gestaltung der Verkehrssysteme aus – oder sollten es zumindest.
Der Staat muss, das hält auch Bruck fest, auf diese prekären Verhältnisse und Ungleichheiten reagieren – nur dann kann eine Smart City eine steigende Lebensqualität für alle bedeuten. Die deutsche Geografin Sybille Bauriedl betont mit Verweis auf den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen:
„Eine nachhaltige digitale Transformation sollte einem Gemeinwohlideal folgen, das von den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Bewohner_innen der Stadt ausgeht und erst danach die verfügbaren Technologien sucht (WBGU 2019: 1). Sie müsste gekennzeichnet sein durch eine Stärkung zivilgesellschaftlicher Partizipation an Stadtgestaltungsprozessen und eine Minimierung digitaler Segregation (digital divide) innerhalb der Städte und der Stadt-Land-Beziehungen sowie zwischen Gruppen unterschiedlicher Generationen, Geschlechter, Einkommensverhältnisse und Herkunft.” – Bauriedl Bauriedl, Sybille / Wiechers, Henk: Konturen eines Plattform-Urbanismus. Soziale und räumliche Ausprägungen eines digital divide am Beispiel Smart Mobility
Die Zukunft der Stadt ist also nicht nur eine Frage der technologischen Machbarkeit, sondern von politischen Entscheidungen und der Partizipation der Stadtbewohner:innen. Anthony Townsend beschreibt diese Bewegung als „grassroots efforts to reshape cities […] to change the ways things work at a local level […] to create new (healthier, greener) systems. They are about change and reform, not just aggregation.“ (Siehe auch citizen ownership.)
Auf die Frage, ob die Stadt bald zur Gänze plattformisiert ist, antwortet Bruck mit einem Lächeln: „Wir haben gerade erst angefangen, die richtigen Fragen zu stellen, das ist gerade wichtiger, als Antworten zu finden. Aber so viel sei gesagt: Digitalisierung wird nie ein vollkommener Ersatz für ein direktes und persönliches Miteinander sein.”